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Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)

Titel: Gestatten, dass ich sitzen bleibe: Mein Leben (German Edition)
Autoren: Udo Reiter
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gegessen.
    Die Kinder im Mühlweg waren trotzdem – vielleicht nicht glücklich, aber zufrieden. Ich hatte Eltern, ein eigenes Zimmer, eine Oma und sogar Spielzeug. Der Schreiner Schmid, der mit seiner Frau und vier Töchtern unter uns wohnte, hat mir einmal ein Lastauto aus Holz gezimmert. Und dann gab es noch einen unförmigen schwarzen Teddybär, den ich immer mit ins Bett nahm. Im Sommer haben wir im Wald »Räuber und Gendarm« gespielt, Fuchslöcher untersucht, Feuerchen gemacht, Baumbuden gebaut und im Rickenbach mit der Hand Forellen und Krebse gefangen. Doktorspiele gab es natürlich auch. Die Kinder auf dem Dorf mögen in der Sexualtheorie den Stadtkindern ja nachhinken. Was die praktische Aufklärung betrifft, sind sie meist weiter. Da sieht man einiges bei den Kühen und bei den Hühnern. Und da gab es die Schmid Irmtraud, die Wannagat Gisela, die Dossenberger Martha und die Nagengast Wonni. Die Angst, bei unseren Treffen unter der Treppe oder auf dem Dachboden von Erwachsenen erwischt zu werden, war groß. Das heutige Verständnis für kindliche sexuelle Neugier war damals unvorstellbar. Es hätte härteste Strafen gesetzt. Wahrscheinlich hat der Reiz des strikt Verbotenen die Sache noch interessanter gemacht. Vor allem die Schmid Irmtraud, die direkt unter uns wohnte, war fast so etwas wie meine feste Freundin. Dreißig Jahre später – wir hatten uns längst aus den Augen verloren – habe ich gehört, dass sie ihren Sohn Udo getauft hat. Das fand ich rührend. Offenbar hat sie ihre Kindheit im Mühlweg auch nicht vergessen.

Gotteskind
    Damals hatte ich allerdings ein spezielles Problem, das mir in den kommenden Jahren noch sehr zu schaffen machen sollte. Es war, wenn man so will, ein theologisches Problem. Mein Vater war überaus fromm. Ein redlicher Mann, rechtschaffen, fleißig, angesehen – aber mit einem schweren Schlag ins Pietistisch-Sektiererische. Ein Homo religiosus. Schon als junger Mann war er in die Neuapostolische Kirche eingetreten, eine protestantische Erweckungsbewegung, die um 1830 in England entstanden war und deren Apostel ihre Anhänger auf das zweite Kommen Jesu vorbereiten wollten. Mein Vater nahm das sehr ernst. Er war Gemeindeevangelist und hat regelmäßig gepredigt. Unter anderem hat er die Botschaft eines sogenannten Stammapostels verkündigt, der fest davon überzeugt war, dass der Herr Jesus zu seinen Lebzeiten wiederkommen und seine Gemeinde direkt in den Himmel heimholen würde. Dreimal pro Woche gingen wir in die Kirche, zweimal am Sonntag, vormittags und nachmittags, einmal am Mittwoch, abends. Jahr für Jahr. Am Sonntag liefen wir zu Fuß von Rickenbach nach Aeschach, wo die Kirche stand, zweimal hin, zweimal zurück, insgesamt etwa fünfunddreißig Kilometer. Am Mittwoch traf man sich im Wohnzimmer bei Rehkuglers in Oberhochsteg, das waren dann nur fünf Kilometer. Das mit dem unmittelbar bevorstehenden Kommen Jesu klingt für Außenstehende vielleicht etwas unwahrscheinlich, aber wir haben diesen Glauben von klein auf eingetrichtert bekommen, und ich war bis in die Pubertät hinein fest von meiner bevorstehenden Himmelfahrt überzeugt. Meinem Freund Jürgen Müller wollte ich noch mit vierzehn Jahren im Gymnasium klarmachen, dass nach der Offenbarung des Johannes einhundertvierundvierzigtausend Auserwählte demnächst direkt in den Himmelentrückt würden und dass er doch unbedingt die Chance ergreifen solle, bei diesem Ereignis dabei zu sein. Er sah mich damals sehr merkwürdig an. Aber ich greife vor.
    Die anderen Kinder im Mühlweg waren evangelisch. Ich habe mich als kleiner Junge in meiner religiösen Sonderrolle unwohl gefühlt. Einmal sagte ich zu den anderen Kindern, was mein Vater mir beigebracht hatte: »Ich bin ein Gotteskind.« Darauf sagte die Schmid Rosmarie: »Ja, meinst du denn, wir sind Elefantenkinder?« Das hat mich sehr irritiert. Als ich noch nicht zur Schule ging, haben mich meine Eltern, wenn sie am Mittwoch Abend in die Kirche gegangen sind, immer ins Bett gebracht und allein gelassen. Einmal bin ich wach geworden und habe vor Angst aus dem Fenster gebrüllt. Ich dachte, jetzt sind sie in den Himmel gekommen und haben mich nicht mitgenommen. Unten kamen Schmids aus dem Haus gelaufen und riefen nach oben: »Die kommen doch wieder!« Da war ich still.
    Auch zu Hause wurde viel gebetet, nach dem Aufstehen, vor dem Schlafengehen, vor dem Essen. Am Samstagabend saß man in der Küche, und der Vater las vor – aus der Bibel oder aus der
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