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Geschichten aus der Müllerstraße

Geschichten aus der Müllerstraße

Titel: Geschichten aus der Müllerstraße
Autoren: be.bra Verlag , Hinark Husen , Robert Rescue , Frank Sorge , Volker Surmann , Heiko Werning
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verfahren: Wer sich nach Einbruch der Dunkelheit im Wedding aufhält, bleibt sich selbst überlassen. Hauptsache, die Weddinger befallen nach Anbruch der Nacht nicht das restliche Stadtgebiet. Abendliche Besucher sind in diesem Konzept nicht vorgesehen, sondern der Kollateralschaden. Wer sich als Auswärtiger abends dorthin wagt, soll da bitteschön bleiben, sich ausrauben lassen, wie sich das gehört, oder notfalls ein Casino an der Müllerstraße eröffnen. Die Stadtoberen trauen dem Wedding nicht. Nur so lässt sich erklären, dass der Grenzübergang zwischen Berlin-Mitte und Wedding zukünftig von einer eigens errichteten BND-Zentrale bewacht wird.
    Für mich bedeutete die Wedding-Verschwörung des ÖPNV immer: Zu den Brauseboys hin brauche ich nur fünfundzwanzig Minuten, von den Brauseboys weg fast eine Stunde. Robert Rescue, der mal in meiner Friedrichshainer Nachbarschaft lebte, hielt das nicht länger aus, zog in den Wedding und hat ihn seitdem nicht ein Mal verlassen. Aber der hat auch kein Auto.
    Ich habe ein Auto und brauche zwischen Wedding und Friedrichshain, egal welche Fahrtrichtung, knapp zwanzig Minuten. Die Müllerstraße liegt nicht auf meiner Stammstrecke, doch komme ich nicht umhin, sie regelmäßig zu fahren, etwa wenn ich das Domizil von Heiko Werning ansteuere oder hoch zu einer Kollegin in Konradshöhe oder an die Seen in Tegel will. Doch Vorsicht, eine Warnmeldung: Vorher steht dem auf Höhe des Weddings die Müllerstraße entgegen. Fahren Sie bitte äußerst vorsichtig und umfahren Sie alle Hindernisse weiträumig.
    Erste Hürde: Der Anfang
    Egal, wie man auf der Müllerstraße landet, ob man von Hauptbahnhof und Tiergartentunnel auf sie einbiegt oder von der Chausseestraße hinauffährt, sofort wird alles anders. Verkehrsströme vermischen und vermengen sich. Wer aus Richtung Hauptbahnhof kommt, will gern weiter gen Reinickendorfer Straße; wer von der Chausseestraße kommt, will nicht selten abbiegen gen Moabit und Charlottenburg. Hier kreuzen sich also Verkehrsströme – etwas, das die Metapher überfordert und auch den Kraftfahrer, gilt es doch, auf weniger als hundert Metern zahlreiche Spurwechsel zu bewältigen, bis man auf dem richtigen Abbiegestreifen ist. Und wer es nicht geschafft hat, biegt halt trotzdem ab. Wäre der Verkehrsstrom eine Elektrizitätsmetapher, dann sprühten am Beginn der Müllerstraße stets die Funken eines Kurzschlusses. Hier scheppert es häufig, und es kann kein Zufall sein, dass sich genau hier einer der größten Auto-Ersatzteilhändler der Stadt angesiedelt hat und im Laufe der Jahre durch einen gesamten Häuserblock metastasierte.
    Google Maps
sagt, dass der Platz neben diesem kurzen Müllerstraßenabschnitt »Weddingplatz« heißt. Nie gehört, und ich möchte auch jede Wette eingehen, dass der gewöhnliche Weddinger diese Perle städtebaulicher Tristesse ebenfalls nicht als »Weddingplatz« kennt, sondern bestenfalls als »Da vor ›tip Auto … Teile‹« – und das ist eine angemessen hilflose Bezeichnung für dieses Weddinger Kleinöd.
    Zweite Hürde: Die Baustelle vor der S-Bahnbrücke
    Seit ich mich erinnern kann, wird auf der Müllerstraße zwischen Bayer-Schering und S-Bahnbrücke gebaut. Und wenn mal gerade nicht gebaut wird, kündet ein Schild von baldigen Bauarbeiten. Sei es, dass unterirdische Wasseradern am esoterischen Fundament der Müllerstraße knabbern oder Bayer-Schering an dieser Stelle etwas in die Kanalisation einleitet, das regelmäßig die Rohre wegätzt, irgendeinen Grund muss es geben, dass hier ständig gebaut wird. Oder handelt es sich um eine von Berlins »Retro-Baustellen«, die nur aus purer Nostalgie aufrechterhalten werden? Vielleicht steht sie auch schon unter Denkmalschutz.
    Als Kraftfahrer muss man hier besondere Obacht walten lassen, denn durch die Baustelle ändert sich regelmäßig die Verkehrsführung. Auf dem Asphalt konkurrieren zeitweise die reguläre Fahrbahnmarkierung und die gelben Verschwenkungen der Fahrstreifen mit blassgelben Fragmenten früherer Verschwenkungen sowie mit den eingefahrenen Gewohnheiten jedes Weddinger Fahrzeuglenkers. Was summa summarum bedeutet: Es gibt hier keine Verkehrsführung, jeder Fahrer folgt seiner individuellen Linie, bremsen können die anderen; zur Not ist »tip Auto … Teile« ja noch nicht außer Sicht.
    Dritte Hürde: Der Leopoldplatz
    Als Autofahrer hat man hier die Qual der Wahl zwischen Pest und Cholera. »Pest« sind hierbei Linksabbieger in die Schulstraße,
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