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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens
Autoren: Heinrich August Winkler
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dem osmanischen Vielvölkerreich einen homogenen türkischen Nationalstaat machen und darum die Armenier, die seit dem Verlust fast des ganzen europäischen Territoriums der Türkei in den Balkankriegen von 1912/13 mit 2,1 Millionen Menschen die größte christliche Minderheit stellten, vertreiben oder vernichten. Das galt nicht nur für diejenigen unter ihnen, die in den an Rußland grenzenden Gebieten im Osten Anatoliens lebten, sondern für alle Armenier des Osmanischen Reiches. Der Krieg bot für die Durchführung dieses Vorhabens die denkbar günstigste Gelegenheit.
    Dem Völkermord von 1915 fielen bis zu 1,5 Millionen armenische Männer, Frauen und Kinder zum Opfer. Sie starben auf Todesmärschen durch wüstenartige Gebiete, durch Folter und Erschießungen; sie verhungerten, wurden ertränkt oder verbrannt. In manchem, vor allem was die Vertreibung in die Wüste angeht, wirkte die Ausrottung der Armenier wie eine Nachahmung der Vernichtung der Herero durch die Deutschen in Südwestafrika in den Jahren 1904 und 1905, des ersten systematischen Genozids des 20. Jahrhunderts. Die deutschen Diplomaten und Militärs, die in der Türkei lebten und arbeiteten, waren über die Massaker genauestens informiert und durch sie auch die Regierenden in Berlin. Obwohl einzelne Augenzeugen wie der Potsdamer evangelische Theologe Johannes Lepsius die Reichsleitung immer wieder drängten, in Istanbul vorstellig zu werden, lehnten Reichskanzler und Auswärtiges Amt einen energischen Protest ab. Sie wollten den Verbündeten nicht verprellen, auf den sich das Deutsche Reich seit 1914 mehr denn je angewiesen sah, und begnügten sich deshalb mit höflichen Bitten, auf Gewaltexzesse zu verzichten.
    Zur Peripherie des Kriegsgeschehens gehörten die deutschen Kolonien. Schon in den ersten Monaten des Krieges wurden Neuguinea und die Samoainseln von australischen beziehungsweise neuseeländischen Truppen, die Marschall-Inseln, die Marianen, die Palauinseln und die Karolinen von japanischen Truppen besetzt. Japan zwang im November 1914 auch Tsingtau zur Kapitulation. In Afrika fiel noch 1914 Togo in die Hände der Alliierten; es folgten 1915 Deutsch-Südwestafrika und 1916 Kamerun. Am heftigsten und längsten wurde in Deutsch-Ostafrika gekämpft. Im September 1916 eroberten Verbände des britischen Empire Daressalam. Bis Kriegsende aber konnte die deutsche Schutztruppe unter General von Lettow-Vorbeck einen großen Teil der Kolonie behaupten und darüber hinaus in den portugiesischen Teil von Ostafrika eindringen.[ 1 ]
Kriegsziele, ideologische Kriegführung, Kriegsgegnerschaft
    «Uns treibt nicht Eroberungslust», hatte Kaiser Wilhelm II. in seiner Thronrede vom 4. August 1914 vor dem Reichstag erklärt und es damit den Sozialdemokraten ermöglicht, den von der Reichsleitunggeforderten Kriegskrediten zuzustimmen. Doch schon bald wurde die Behauptung, Deutschland führe einen Verteidigungskrieg, von einflußreichen Kreisen in Frage gestellt. Zwar war eine öffentliche Diskussion über die deutschen Kriegsziele bis zum November 1916 verboten. Hinter den Kulissen aber wurde dafür um so eifriger über den Zugewinn an Gebieten, Ressourcen und Macht gesprochen und geschrieben, mit dem das Deutsche Reich aus dem Krieg hervorgehen sollte.
    Im September 1914 faßte Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg seine Vorstellungen in einem Programm zusammen, das auf ein deutsch beherrschtes Mitteleuropa und damit auf eine deutsche Hegemonie auf dem Kontinent hinauslief. Die Annexion des nordlothringischen Erzbeckens von Longwy-Briey und der Festungsstadt Belfort gehörte ebenso dazu wie die Angliederung Luxemburgs und die Degradierung Belgiens zu einem Vasallenstaat. Zu Rußland hieß es vorerst nur ganz allgemein, daß es «von der deutschen Grenze abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden» müsse. Die Nachbarstaaten einschließlich Österreich-Ungarns, Frankreichs und eventuell «Polens» sollten einem mitteleuropäischen Wirtschaftsbund beitreten, und «zwar unter äußerlicher Gleichberechtigung seiner Mitglieder, aber tatsächlich unter deutscher Führung».
    Das «Septemberprogramm» des Reichskanzlers deckte sich weithin mit dem, was auch die exportorientierten Industriebranchen und die Deutsche Bank für notwendig hielten. Sehr viel weiter gingen die extrem nationalistischen Alldeutschen und einzelne Schwerindustrielle. Heinrich Claß, der Vorsitzende des Alldeutschen Verbandes,
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