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Geschichte des Westens

Geschichte des Westens

Titel: Geschichte des Westens
Autoren: Heinrich August Winkler
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Ländern Ernüchterung einziehen zu lassen. Mit einer raschen Niederwerfung der Feinde konnte man seit Ende 1914 nicht mehr rechnen. Dieser Krieg hatte von Anfang an andere, größere Dimensionen als die europäischen Waffengänge der Vergangenheit, an denen viele der älteren Zeitgenossen selbst noch teilgenommen hatten.
    Die Kriegsgegner der ersten vier Wochen waren auf der einen Seite die beiden Mittelmächte Deutschland und Österreich-Ungarn, auf der anderen die Tripelentente Rußland, Frankreich und Großbritannien sowie Serbien, Montenegro und Japan. Das neutrale Belgien wurde zum Kriegsgegner Deutschlands, weil es sich einem Berliner Ultimatum nicht gebeugt hatte, sondern sich dem Bruch des Völkerrechts widersetzte. Im Oktober 1914 trat die Türkei, im Oktober 1915 Bulgarien auf der Seite der Mittelmächte in den Krieg ein. Die Tripelentente wurde im Mai 1915 durch den Kriegseintritt Italiens verstärkt; 1916 folgten Portugal, Rumänien und Griechenland.
    In den ersten Wochen des Krieges wühlte nichts die internationale Öffentlichkeit so sehr auf wie die deutschen Kriegsgreuel im neutralen Belgien. Die belgische Armee leistete unerwartet starken Widerstandgegen die deutschen Invasionstruppen; vereinzelt mögen sich auch nichtuniformierte Angehörige der Garde civique an den Kämpfen beteiligt haben. Beim deutschen Militär kam jedenfalls sogleich eine panikartige Angst vor «Franctireurs» auf, wie sie im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 in Erscheinung getreten waren. Die Antwort bestand in der Zerstörung privater und öffentlicher Gebäude, in Geiselnahmen und der wahllosen Exekution von Zivilisten, die fälschlich beschuldigt wurden, auf deutsche Soldaten geschossen zu haben. In Löwen wurden Ende August große Teile der mittelalterlichen Stadt, darunter die wertvolle Bibliothek der Katholischen Universität, niedergebrannt. Insgesamt kamen während der Massaker zwischen August und Oktober 1914 5521 belgische Zivilisten um. Ungezählt blieben die Vergewaltigungen belgischer Frauen und Mädchen durch deutsche Soldaten. Immer wieder behauptet, aber nicht bewiesen wurden Verstümmelungen wie das Abhacken von Kinderhänden: vermutlich ein Phantasieprodukt, dessen psychologische Ursprünge in der kolonialen Praxis im Kongo Leopolds II., des 1909 verstorbenen Königs der Belgier, lagen.
    John Horne und Alan Kramer, die Autoren der bislang gründlichsten Untersuchung der deutschen Kriegsgreuel von 1914, nennen den Irrglauben der Deutschen, die Belgier führten einen «Volkskrieg» gegen sie, einen «außerordentlichen Fall von Autosuggestion, wie er in einem modernen Heer seinesgleichen sucht». Was es tatsächlich an Grausamkeiten von deutscher Seite gab, war so schrecklich, daß in Belgien, Frankreich und England auch das für wahr gehalten wurde, was wohl eher einer erregten Einbildung entsprang: die abgehackten Kinderhände, die, in den Worten von Horne und Kramer, zu einer «Allegorie auf die Invasion, den Feind und den Krieg» wurden. Das brutale Vorgehen der deutschen Truppen in Belgien und kurz darauf auch in Nordfrankreich wurde als typischer Ausdruck des preußischdeutschen Militarismus gedeutet: unvereinbar mit der auch vom Deutschen Reich unterzeichneten Haager Landkriegsordnung von 1907 und dem Anspruch der Deutschen, eine der führenden Kulturnationen der Welt zu sein. Fortan fiel es den alliierten Kriegspropagandisten leicht, die barbarischen Feinde als die Hunnen der Gegenwart und Kaiser Wilhelm II. als Wiedergeburt König Attilas darzustellen.
    Gegen solche Angriffe versuchten sich Anfang Oktober 1914 93 bekannte deutsche Gelehrte, Künstler und Intellektuelle, unter ihnender Zoologe und sozialdarwinistische Philosoph Ernst Haeckel, der Philosoph und Nobelpreisträger für Literatur Rudolf Eucken, der Chemiker Fritz Haber, der Immunologe und Nobelpreisträger für Medizin Paul Ehrlich, die Historiker Eduard Meyer und Karl Lamprecht, der Maler Max Liebermann und der Dichter Gerhart Hauptmann, mit ihrer Unterschrift unter einem amtlich inspirierten «Aufruf an die Kulturwelt» zu verteidigen. Darin stritten sie eine deutsche Kriegsschuld ebenso ab wie eine freventliche Verletzung der belgischen Neutralität; sie behaupteten, daß das Leben und das Eigentum keines belgischen Bürgers angetastet worden seien, außer wenn es die bitterste Notwehr geboten habe; sie leugneten das Zerstörungswerk deutscher Truppen in Löwen und verstiegen sich zu der Aussage: «Ohne den deutschen
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