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German Angst

German Angst

Titel: German Angst
Autoren: Friedrich Ani
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stellte sie sofort wieder ein.
    Von den Kundinnen, die sich vor Ines ekelten, hätte sich Natalia am liebsten getrennt, aber das konnte sie sich nicht leisten. Und das ärgerte sie. Und sie schaffte es, zwei dieser Frauen mit unangenehmen Ölen so lange zu quälen, bis sie von sich aus wegblieben.
    »Das brennt etwas«, sagte der Mann, der vor ihr auf der Liege lag.
    »Entspannen Sie sich!«
    Er hatte darauf bestanden, sich unter das Vapazone-Gerät zu legen und den Dampf einzuatmen, dem sie Limonengrasöl beigemischt hatte. So wie er es verlangt hatte. Dann hatte sie ihn gefragt, ob sie sein Gesicht abtupfen und eingetrockneten Talg entfernen solle. Nein, hatte er gesagt, ohne die Augen zu öffnen. Sie sah ihn wieder an und etwas an ihm versetzte sie in Unruhe, etwas, das sie nicht benennen konnte. Er hieß Josef Rossi und war Verkäufer in einem Möbelhaus. Das hatte er ihr erzählt, während er seine braunen Halbschuhe und seine weißen Socken auszog und sich mit einer Selbstverständlichkeit auf der weißen Liege ausstreckte, als käme er regelmäßig her. Sie schaltete die Lupenleuchte ein, um sein Hautbild besser zu erkennen, und er schloss die Augen und machte sie nicht mehr auf. Sie stellte ihm einige Fragen zu seiner Gesundheit, die er knapp beantwortete, und dann legte er los, ihr seinen Beruf zu erklären.
    Er trug eine braune Stoffhose mit Bügelfalten und ein schwarzes Hemd, das er bis zum letzten Knopf zugeknöpft hatte. Am Telefon hatte er gesagt, er wolle sich pediküren und maniküren lassen, und mit denselben Worten hatte er sie an der Tür begrüßt.
    Und vom ersten Augenblick an hatte Natalia in seiner Gegenwart ein unangenehmes Gefühl.
    Seiner Freundlichkeit misstraute sie, ohne zu wissen, warum.
    »Das ist alles sehr sauber hier«, sagte er und ließ den Blick kreisen. »Meine Bekannte schwärmt von Ihnen, wissen Sie das? Sie sagt, durch Sie sei sie wie neugeboren. Entschuldigen Sie bitte, ich finde das übertrieben, neugeboren! Das klingt mir zu religiös. Ich mag das nicht, ich will Ihnen nicht zu nahe treten…«
    Das ist gut so, dachte sie, treten Sie mir nicht zu nahe…
    »Aber die Leute suchen Ausflüchte für alles – soll ich mich hier hinlegen? Ich zieh meine Schuhe aus, ist Ihnen das recht?«
    Sie kam nicht dazu zu antworten, er tat, was er gesagt hatte, und redete einfach weiter. Sie machte ihm ein Fußbad, schnitt und feilte seine Fuß und Fingernägel, massierte seine Zehen, die verspannt und kalt waren, besprühte sie mit Kiefernspray und sah mehrmals auf die Uhr. Die Stunde, die sie vereinbart hatten, schien wie in Zeitlupe zu vergehen.
    »Ich hör genau zu, wenn meine Kunden was sagen«, sagte er und sie bemerkte seine schmalen Lippen und die Verkrustungen unterhalb der Nase, Abschürfungen und Rötungen, als würde er sich ständig schnäuzen. »Die bringen ja ihre Lebensphilosophie mit, wenn sie Möbel bei mir kaufen. Die wollen Harmonie, Zufriedenheit und das kriegen sie nicht nur durch einen Schrank, den sie sich hinstellen, oder durch ein Bett, sie müssen was dafür tun, verstehen Sie das, Frau Horn?«
    Es passte ihr nicht, dass er sie bei ihrem Namen nannte. Was sollte er sonst tun? Langsam kam sie sich lächerlich vor. Was hatte sie gegen diesen Mann, der ihr von einer ihrer treuesten Kundinnen empfohlen worden war? Er war höflich, er war nicht aufdringlich wie einige der anderen Männer, die zu ihr kamen, er redete, das war alles. Jeder, der auf dieser Liege lag, redete. Das war ihr Job, das war eine ihrer Hauptfunktionen: zuhören, widerspruchslos zuhören. Manche Frauen fingen bei der ersten Berührung zu weinen an, andere schienen überhaupt nur zu kommen, um sich auszukotzen. Sie hatte kein anderes Wort dafür. Sie war Kosmetikerin, aber sie war genauso ein Gefäß für Müll und Trauer, für die ewigen Monologe der Einsamkeit und des Alters, für den verbalen Abfall, den die Ehefrauen, Mütter, Witwen oder Zwangs-Singles wochenlang ansammelten und den sie nirgends loswurden außer in der Gutenbergstraße in Nettys Studio. Netty, so wurde sie von allen genannt und das war sie auch: nett. Manchmal war sie nahe daran, auch sich auszukotzen und laut zu schreien und das Gegenteil von nett zu sein. So wie jetzt. Wie gerne hätte sie das Dampfgerät abgeschaltet und die Behandlung beendet. Rabiat. Ohne Erklärungen. Sie hatte nämlich andere Sorgen als zuzuhören, wie ein Möbelverkäufer sich sein Berufsethos zusammenzimmerte. Schon seit einer halben Stunde wollte sie
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