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Geisterjagd

Geisterjagd

Titel: Geisterjagd
Autoren: Jo Clayton
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gefragt hatte, warum er den Dorfbewohnern keine Pumpe und keine Wasserleitungen zu ihren Häusern gab. Das Wasser des Brunnens sei begrenzt, sagte er, jedoch weniger mit Giften verunreinigt als das Flußwasser. Eine Pumpe und die Installation einer Leitung hätte sie nur sorglos gemacht, sie würden das saubere Wasser bald erschöpfen und sich dem Fluß zuwenden müssen. Da sie also jeden Tropfen tragen mußten, waren sie gezwungen zu sparen. Auf eine unmenschliche Art und Weise ergab dies sogar einen Sinn, wie vieles von dem, was ihr Vater sagte und tat. Ein paar alte Männer saßen draußen vor den Häusern auf Bänken, und einige davon beugten sich über zwischen ihnen aufgestellte Schachbretter, andere unterhielten sich oder blickten starr zu den Bergen hinaus. Sie zählte sie. Neun. Zwei fehlten, seit sie sie das letzte Mal gezählt hatte, waren krank oder tot. In der Ferne konnte sie eine Reihe von Männern sehen, welche von den kleinen, gerodeten Feldern zurückstapften … Auf diesen Feldern kämpften sie gegen die giftige Vegetation und versuchten dem kargen Boden die Ernten abzuringen, die sie benötigten, um die von ihrem Vater gelieferte Grundnahrung zu ergänzen. Am Brunnen zog eine Frau ein Stück Tuch vor ihr Gesicht, stierte angespannt zur Burg empor, nahm ihren Krug auf und stolzierte davon, woraufhin die anderen sie einen Moment lang beobachteten, sich dann zusammendrängten und eingehend miteinander redeten.
    Lilit wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn, und das Medaillon, das sie an einer dünnen Goldkette um ihr Handgelenk trug, kitzelte ihr Gesicht. Sie betastete das glatte Oval und fühlte die Einkerbungen der eingravierten Sichel. Etikettiert und zum Verkauf bereit, dachte sie und ballte eine Faust. Genieße das Brautgeschenk, das ich dir bringe, du Kröte, dachte sie. Die Welt außerhalb der Burg dehnte sich bis zum Horizont, pflaumenblau und magenta- und granatrot und zin-noberfarben, ein Mosaik aus Bändern, Streifen und Punkten. Blitze tanzten durch die Wolken, und die Berge fingen an zu leuchten, als die Sonne tiefer sank und ein unheimliches Blauweiß in die Beinahe-Nacht hinausstrahlte. Dies ist kein für den Menschen geschaffener Ort, dachte sie. Niemals, nicht ein einziges Mal war sie außerhalb der Burg gewesen; ihr ganzes Leben war innerhalb der Mauern in den Hallen und Fluren verbracht worden, auf einem kleinen Flecken, einem Dachgarten voller üppiger Fremdweltpflanzen, die nach einem oder zwei Jahren verwelkten, ganz gleich, wie sorgfaltig sie gepflegt wurden. Neunzehn Jahre, dachte sie, und sie lachte, ein rauher, bitterer Klang, der ihr gefiel, als sie beiseite trat und sich selbst zuhörte. „Und das alles, um meine Vermehrungsfähigkeit zu schützen. Keine mißgestalteten Enkel und Enkelinnen, welche Kalyen-Tej in eine peinliche Situation bringen könnten.”
    Ein paar Minuten lang sah sie dem Sturm zu, wie er heranwalzte, dann rutschte sie von dem Sitz herunter und stand mit nackten, knöcheltief in den moosgrünen Teppich eingesunkenen Füßen da. Mit zusammengepreßten Lippen betrachtete sie den Kontrast, den dieser Raum mit der Siedlung bildete. Spitzenvorhänge, schwere, dunkle Möbel. Ein breites, behagliches Bett mit sauberen Laken, die jeden zweiten Tag gewechselt wurden. Hinter einer von Hand geschniegelten Holztür in der Wand am Kopfende des Bettes ein Badezimmer, saubere Handtücher und auf Knopfdruck soviel heißes und kaltes Wasser, wie sie nur wollte. Und dies war nur ein Raum auf der Frauenseite, hoch oben im Frauenturm, isoliert, ein Ort, an dem sie grübeln, an dem sie vergessen werden konnte. „Bis er einen Köder braucht, um eine verschlagene Kröte zu fangen”, murmelte sie.
    Obgleich der Raum kühl war und durch die gewaltige Klimaanlage in den Tiefen unter der Burg mit gereinigter und frischer Luft versorgt wurde, fühlte sie sich wie erstickt. Sie kehrte rasch zu ihrem Schreibtisch zurück, starrte auf die Seiten, strich sie bedächtig glatt und blickte angespannt in die Schatten, die sich in den Ecken des Raumes sammelten. Sie tauchte die Schreibfeder in die Tinte und schrieb:
    Es ist dumm, all diese Dinge niederzuschreiben. Wahnsinn.
    Gefährlich für mich und die Leute, die ich benennen werde. Dem zufolge, was in den Büchern zu lesen ist, die ich aus Vaters Bibliothek gestohlen habe, wünschen offenbar die meisten Mörder, daß die Leute verstehen, warum sie taten, was sie taten. Er scheint, als hätte ich an diesem Zwang teil Ich
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