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Gehirnfluesterer

Gehirnfluesterer

Titel: Gehirnfluesterer
Autoren: Kevin Dutton
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weiteres vorstellen, andere weniger leicht. Worauf will ich hinaus? Es ist ganz
     einfach: Das Leben in einer Gesellschaft ist überhaupt nur möglich, wenn und weil es Überzeugung und Beeinflussung gibt. Es
     hat im Verlauf der Geschichte verschiedene Versuche gegeben, diese Behauptung in Frage zu stellen. Doch alle diese Versuche
     sind früher oder später gescheitert. Überzeugung ist etwas, das uns am Leben hält – und das ist oft genug durchaus wörtlich
     zu verstehen.
     
    Vor einigen Jahren nahm ich an einer Konferenz in San Francisco teil. Vor meinem Abflug war ich gewaltig unter Zeitdruck und
     hatte deshalb – wider jegliche Vernunft – kein Hotelzimmer vorab gebucht. Ich wollte mir eines suchen, wenn ich vor Ort war.
     Aber es fand nicht nur die eine Konferenz statt, die ich besuchen wollte, sondern es gab noch zahllose andere: Alle einschlägigen
     Hotels waren ausgebucht. Deshalb landete ich mit meiner Zimmersuche in einer extrem gefährlichen Gegend, in der sich sogar
     Serienmörder nur paarweise auf die Straße trauten.
    Jeden Morgen, wenn ich das Hotel verließ, und jeden Abend, nachdem ich die gefährliche halbe Meile von der U-Bahn -Station hinter mich gebracht hatte, stieß ich auf dieselbe Gruppe von Leuten, die sich am Kiosk vor dem Hotel versammelten:
     einen heruntergekommenen Vietnamveteranen, eine brasilianische Prostituierte und diverse andere Gestrandete und Heimatlose.
     Allen hatte das Schicksal reichlich zugesetzt. Sie hockten auf dem Gehweg mit ihren abgenutzten Pappkartons, auf denen stand:
     »Hungrig und obdachlos«, »Vietnamveteran«, »Noch sechs Wochen zu leben«.
    Ich will gar nicht bestreiten, dass sie Geld brauchten. Natürlich brauchten sie Geld. Am Anfang war ich auch spendabel. Aber
     im Lauf der Woche lernte ich sie näher kennen und beschloss, damit aufzuhören. Denn das Geld wurde schneller »geschluckt«
     als von einem Bernie-Madoff-Hedgefonds. EinesNachts jedoch, gegen Ende meines Aufenthalts, bemerkte ich einen Mann, der mir bis dahin noch nicht aufgefallen war. Ich war
     ja im Lauf der Tage zunehmend immun gegenüber den traurigen Lebensgeschichten geworden und warf nur einen kurzen Blick auf
     das zerknitterte Papier, das er vor sich hinhielt. Doch kaum hatte ich gelesen, was darauf stand, kramte ich auch schon in
     meinen Taschen, um etwas Substanzielleres herauszuholen als ein paar Cent. Fünf Worte hatten mich dazu gebracht: »Warum lügen?
     Ich will Bier.«
    Ich hatte das Gefühl, dass ich gewissermaßen legal abgezockt wurde.
    In der – vergleichsweisen – Sicherheit meines Hotelzimmers dachte ich darüber nach. Schließlich hätte ich diesen Säufern zu
     dem Zeitpunkt nicht mal dann Geld gegeben, wenn Jesus Beifall geklatscht hätte. Aber plötzlich habe ich das Geld so schnell
     aus der Tasche gezogen, als hätte mir der Mann eine Pistole vorgehalten. Was hatte die inneren Sicherheitssysteme, die ich
     seit meiner Ankunft installiert hatte, so gründlich und offensichtlich ausschalten können?
    Ich musste lachen.
    Denn plötzlich fiel mir mein Erlebnis von vor vielen Jahren wieder ein, dieser Streit mit meinem Vater in einem Restaurant.
     Damals war ich hinausgestürmt und hundertprozentig überzeugt, dass ich um nichts in der Welt zurückgehen würde. Keine zehn
     Pferde   … Doch nur wenige Minuten und ein paar Worte meines Freundes später hatte ich mir das anders überlegt.
    An solchen Ereignissen, so wurde mir allmählich klar, zeigte sich etwas Zeitloses, ein Mechanismus, der sich von normalen
     Formen der Verständigung grundsätzlich unterscheidet. Solche Umschwünge haben etwas Umwerfendes, Transzendentales, ja fast
     etwas Außerirdisches an sich.
    Aber was genau?
    Überzeugungsschübe
    Damals in meinem Hotelzimmer dachte ich, ich sollte diese Frage beantworten können. Schließlich war (und bin) ich Psychologe.
     Doch je mehr ich darüber nachdachte, desto vertrackter erschien mir die Angelegenheit. Es ging um Überzeugung, um einen Wandel
     der Einstellung, um sozialen Einfluss. Eigentlich das normale Geplänkel im Vorraum der Sozialpsychologie. Doch klaffte, wie
     es schien, gerade an dieser Stelle ein großes schwarzes Loch in der Literatur. Ich fand es verblüffend. Warum konnte mir ein
     völlig Fremder mit nur fünf Worten Geld aus der Tasche ziehen? Warum hatte es mein bester Freund mit ein paar Worten geschafft,
     dass ich meine Meinung völlig änderte?
    Normalerweise funktioniert es ja so: Wenn wir, wie damals mein Freund,
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