Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)

Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)

Titel: Geheimnisvolles Vermächtnis (German Edition)
Autoren: Mary Hooper
Vom Netzwerk:
ihr einen gequälten Schrei, so verwirrt war sie angesichts all dieser Entscheidungen. Und was, wenn Grace nun überhaupt nicht mehr nach Hause kam? Lily hatte schon gehört, dass Kinderkriegen eine mühsame, gefahrvolle Angelegenheit war. Wenn nun Grace starb und in der Erde verscharrt wurde wie Mama? Die Vorstellung war so verstörend und entsetzlich, dass eine Welle von Panik sie ergriff. IhreBeine fingen so stark an zu zittern, dass sie sich aufs Bett setzen musste. Wie sollte sie ohne Grace zurechtkommen?
    Es dauerte eine ganze Weile, bis das Zittern nachließ und Lily wieder aufstehen konnte. Inzwischen war es allerdings zu spät, um zum Großmarkt zu gehen und Brunnenkresse zu kaufen. Außerdem hatte sie ja noch immer kein Geld. Erneut betrachtete sie die Sachen und rang plötzlich erschrocken nach Luft. Sie hatten ja gar keine Kleider für das Baby, das Grace heimbringen würde! Es hatte gar nichts zum Anziehen! Wie sollten sie es denn da mit nach draußen nehmen, wenn es nicht einmal ein Wolltuch zum Einwickeln hatte?
    Das Baby musste eingekleidet werden, das war ganz klar! Mit dieser plötzlichen Erkenntnis ging Lily zu der ersten Kiste zurück und holte Mamas Teekanne hervor. Dafür bekäme sie beim Pfandleiher am meisten Geld. Bestimmt genug, um für ein paar Tage Brunnenkresse zu kaufen, für heute Abend etwas zu essen (natürlich würde Grace heute Abend heimkommen!) und eine Babyausstattung. Sie würde die Kleider für das Baby gleich selbst besorgen, und Grace wäre bestimmt so froh darüber, dass sie gar nicht fragen würde, was Lily denn dafür versetzt hatte. Sie würde Schlafkleidchen aus gekämmter Baumwolle kaufen, hübsche Babyhauben mit Spitze und einen kuschelweichen weißen Schal. Es wäre fast, als hätte sie Primrose wieder.
    Lily wickelte die Teekanne aus dem Zeitungspapier und strich zärtlich mit der Hand darüber. Sie war aus feinstem Porzellan, das einen klingenden Ton abgab, wenn man sanft mit dem Fingernagel dagegenschlug, und war über und über mit kleinen blauen Vögeln bemalt – die blauen Vögel brachten Glück, hatte Mama immer gesagt. Sie hatte jedem Vogel einen Namen gegeben und den Mädchen erzählt, an welchen Blumen sie sich labten, doch Lily konnte sich an all diese Einzelheiten nicht mehr erinnern. Die Teekanne war jedenfalls sehr hübsch, aber warum sie nicht verkaufen, wo sie doch gar keine Verwendung dafür hatten, denn Tee war ja sowieso viel zu teuer, als dass sie sich welchen hätten leisten können.
    Vorsichtig wickelte sie die Kanne wieder in das Zeitungspapier. Sie wusste, dass das die
Times
war, aber sie selbst konnte nicht einmal das Datum lesen. Grace dagegen, die konnte lesen. Manchmal brachte sie ein Blatt oder zwei, die auf dem Gehsteig herumgeflattert waren, mit nach Hause und las die Anzeigen auf der ersten Seite vor:
»Mr   Lucas sucht einen braunen Wallach«
, stand da zum Beispiel, oder:
»Gouvernante sucht Anstellung in einem aristokratischen Haushalt. Fünf-Pfund-Note in der Bishopsgate Street verloren. Madame Oliver singt heute Abend in Tremore Gardens. Hilfe gesucht für mittellose verkrüppelte Buben.«
Manchmal erfand Grace Geschichten über die Leute, von denen sie in der Zeitung las – eine Gouvernante, die einen braunen Wallach zu verkaufenhatte, sich auf Mr   Lucas’ Anzeige meldete, und die beiden verliebten sich ineinander. Einer der verkrüppelten Jungen fand eine Fünf-Pfund-Note und wusste nicht, ob er sie nun zurückgeben und die Belohnung verlangen oder sich davon ein ganzes Jahr lang jeden Tag eine Fleischpastete kaufen sollte. Madame Oliver hatte eigentlich in Tremore Gardens singen wollen, dann aber auf einem braunen Wallach reitend die Zeit vergessen.
    So verbrachten die beiden Mädchen manch lustige Stunde zusammen, denn Grace war eine exzellente Geschichtenerfinderin, und wenn Lily wegen irgendetwas Angst bekam, dann erzählte Grace ihr zum Einschlafen Geschichten von Schlössern und Prinzessinnen. Sie erzählte die Geschichten so gut, dass Lily noch am nächsten Tag darüber nachdachte und manchmal nicht mehr genau wusste, ob sie nun erfunden oder tatsächlich so passiert waren.
    Ganz erleichtert darüber, dass sie endlich zu einer Entscheidung gekommen war, machte Lily sich auf den Weg zu einem Pfandleiher, bei dem sie schon öfter etwas versetzt hatten, einem gutmütigen Mann, der – wie alle seiner Zunft – von den Leuten »Onkel« genannt wurde. Allerdings fand sie seine Tür verschlossen vor und die Rollläden
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher