Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geh aus, mein Herz

Geh aus, mein Herz

Titel: Geh aus, mein Herz
Autoren: Ake Edwardson
Vom Netzwerk:
wie ich aussehe. Lesen kann ich auch. Die Gesellschaft lässt mich spüren, dass ich nicht dazugehöre.«
    Kajsa Lagergren konnte es auch spüren, wenn es dessen noch bedurft hätte. Es gab eindeutige Fakten dafür: In den letzten Wochen waren drei kleinere Läden und zwei Pizzerien überfallen worden – schwere Gewaltanwendung gegen die Besitzer, die alle schwedische Staatsangehörige waren, jedoch aus einem anderen Land stammten. In der Woche davor fünf Läden, drei Pizzerien. Einwanderer. Was für ein blöder Ausdruck. Er unterstrich das Bild von einem Armen, der barfuß, mit einem Stock in der Hand und gebeugt, vor Schwedens Toren steht und demütig fragt: »Darf ich einwandern?«, dachte sie.
    Man brauchte kein professioneller Beobachter der Gesellschaft zu sein, um zu konstatieren, dass das Misstrauen gegen Menschen, die in dieses reiche Land immigriert waren, gewachsen war. Früher waren selten Delikte gegen Andersfarbige vorgekommen. Jetzt hörte sie jeden Tag davon, sah es an Kleinigkeiten, einem schnellen, hasserfüllten Blick oder an schweren Vergehen wie gegen Roosevelt Tanai. Menschen, die unter Druck standen, griffen Außenseiter an. Sie war Polizistin, sie sah es deutlicher als viele andere. Sie stand nicht außerhalb der Gesellschaft und schaute hinein; sie hielt sich mehr Stunden am Tag, als ihr lieb war, in den unteren Regionen dieser Gesellschaft auf. Das war nun mal ihr Job.
    »Schaffen Sie es, in den Laden zu fahren?«
    »Wann?«
    »Jetzt. Ich komme mit.«
    »Klar.«
     
    Im Auto mitten auf der Brücke über den Götaälv wandte sich Roosevelt Tanai ihr zu:
    »Hier werde ich immer etwas schneller.«
    »Sie reden doch jetzt nicht vom Autofahren?«
    »Nein.«
    »Vom Göteborg-Lauf also«, schloss Kajsa Lagergren.
    »Ja.«
    »Sie bestätigen das Vorurteil, dass alle Leute aus Afrika Langstreckenläufer sind.«
    »Ich komme aus Kenia. Dort betreiben ziemlich viele Langstreckenlauf, aber nicht alle.«
    »Haben Sie an Wettkämpfen teilgenommen?«
    »Sie haben keine Ahnung von der Konkurrenz. Die, die an die Spitze kommen, sind unglaublich gut.«
    Sie warf einen raschen Blick auf den Gullbergskai hinunter.
    »Genau hier wird es schwierig, hier auf dem höchsten Punkt, wenn man an die gerade Strecke auf dem Södra Vägen denkt.«
    »Sie laufen die ganze Runde? Ich hab mir schon gedacht, dass Sie sehr gut trainiert wirken.«
    »Bis hierher bin ich es immer.«
    »Dann laufen Sie zu kurze Strecken. Ist es dann überhaupt sinnvoll, die Runde zu laufen?«
    Hatte es Sinn? Es war eine Art Ziel im Mai, ein konkreter Anlass, rauszugehen, wenn Körper und Geist schwach waren. Im Mai tat es zuerst immer weh. Hinterher war es schön.
    Kajsa Lagergren fuhr auf der Hjalmar Brantingsgatan in nördlicher Richtung und versuchte durch die Windschutzscheibe zu sehen, die von Scheibenwischern gereinigt wurde, die längst hätten ausgetauscht werden müssen.
    »Im letzten Jahr, als wir von der Brücke in die Stadt kamen, auf diesem verschlungenen Radweg, da saß eine Gruppe im Gras daneben. Sie hatten zu essen und Wein dabei und Banderolen mit einem Namen drauf, und es stellte sich heraus, dass der Junge dieses Namens zehn Meter vor mir lief. Seine Freunde oder Familie – oder wer das nun war – feuerten ihn an. Als er sie sah, rief er: ›Nein, ich schaff es nicht‹, blieb stehen und warf sich auf den Boden und dann brüllte er: ›Her mit einem Bier‹, und die Clique war sehr enttäuscht. So hatten sie sich das nicht vorgestellt. Sie versuchten, ihm Mut zu machen, ihn aufzurichten, aber vergebens.«
    Roosevelt Tanai hörte zu und betastete vorsichtig die Kompresse an seiner linken Wange.
    »Wenn sie nicht da gewesen wären, hätte er es vielleicht geschafft.«
    »Vielleicht.«
    Mit solchen Freunden braucht der Läufer keine Feinde, dachte sie. Sie bog zum Backaplan ab und parkte in südlicher Richtung; dann gingen sie zu Tanais Laden in einem der älteren Holzhäuser. Die Absperrbänder wölbten sich im Wind. Der dunkelhäutige Mann schaute auf die neuen Fensterscheiben. Drinnen bildeten Schotter, Erde, Wasser und Fußabdrücke ein bizarres Muster auf dem Fußboden.
    »Das ist mein kleines Unternehmen.«
    »Es wird nicht wieder passieren.«
    »Können Sie mir das versprechen?«
    Sie antwortete nicht sofort und folgte mit den Augen einem Schwarm Möwen, der nach Westen zum offenen Meer flog. Die Vögel wogten im Nordwestwind, blieben aber trotzdem zusammen. Wie eine riesige graue Decke schwebten sie davon, auf den
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher