Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Geh aus, mein Herz

Geh aus, mein Herz

Titel: Geh aus, mein Herz
Autoren: Ake Edwardson
Vom Netzwerk:
Gestalt zog das Papier weit über die Stirn und sperrte auf diese Weise das Licht von der Sprängskullsgatan aus.
    Von der Stelle, wo er stand, konnte der Mann die schwerfälligen Bewegungen im Gebüsch sehen, flatternde Zeitungsseiten, einen Stofffetzen; das Gesicht des Mannes war reglos, aber er empfand Sympathie für den Menschen dort hinten, fast Zuneigung. Er war einer dieser Geringsten gewesen. Er hatte so gelegen, war so ziellos umhergeirrt. Wie lange? Nicht lange. Was hatte ihn da herausgeholt? Er wollte nicht daran denken, aber er wusste, dass ihm keiner geholfen hatte, nur er sich selber, und hätten die ihn zu der Zeit gesehen, würde er jetzt nicht hier stehen. Hätten sie ihn damals sehen können, dann hätten sie ihn fertig gemacht … Scheiße … wenn er nur … aber nicht mehr lange, und er würde es ihnen zeigen … er hatte …
    Der Mann trat aus dem Schatten der westlichen Kirchmauer und ging langsam auf die Gestalt zu, die da auf dem Boden lag. Er beugte sich hinunter und lauschte den regelmäßigen rasselnden Atemzügen des Schlafenden. Er studierte die Stelle, wo das Gesicht sein musste, verborgen unter einer Seite, auf der er DIE ZINSEN FALL… entziffern konnte, bevor das dünne und jetzt ein wenig feuchte Papier sich hob, wo die Nase war.
    Der Mann war von unendlicher Zärtlichkeit erfüllt; sehr vorsichtig zog er die Zeitung von dem Gesicht und streichelte dort unten im Dunkeln und im nassen Gras eine unrasierte Wange. Er hörte ein Murmeln, konnte jedoch keine einzelnen Wörter unterscheiden. Nach einer Weile richtete er sich auf und breitete die Decke, die er mitgebracht hatte, über den armen Kerl. Als er wegging, in Richtung Storgatan, hörte er, dass sich der Mann im Schlaf umdrehte und wieder etwas Unverständliches murmelte. Er hörte nicht genau hin. Er war endlich auf dem Weg, dem Weg, dem Weg.
     
    Sie war spät dran. Immer kam sie zu spät. Jedes einzelne Mal, als würde sie die Alltagsroutine nie in den Griff bekommen, obwohl sie schon seit unzähligen Jahren unverändert war – so lange hatte sie diesen Weg zurückgelegt. Hin und zurück zur Bibliothek, hin und zurück, hin und zurück. Sie meinte schon jeden Grashalm entlang der Strecke vom Götaplatsen zur Bibliothek zu kennen. Es war nicht besonders weit, und es war ein schöner Abschnitt, besonders im Frühling. Sie nahm die Düfte von allem wahr, was aus der Erde spross, und sie liebte den Seerosenteich. Manchmal stellte sie sich vor, er sei eine Oase auf ihrer Wanderung durch die Wüste zum Arbeitsplatz. Ab und an blieb sie eine Weile hier sitzen und schaute in das trübe Wasser, das die Kinder ständig in Bewegung hielten.
    Wieder einmal war sie in Eile, diesmal hastete sie in die andere Richtung. Sie wollte noch einkaufen. Wie jeden Herbst spürte sie die alte Irritation in sich hochsteigen: Warum war der Wegabschnitt zum Kunstmuseum hinunter nicht besser beleuchtet? Nicht, dass sie Angst gehabt hätte. Aber sie war doch immer irgendwie beunruhigt, wenn der Spätherbst sie mit seiner unbarmherzig frühen Dunkelheit überraschte. Der Seerosenteich war um diese Jahreszeit keine Oase mehr. Sie schaute nicht in seine Richtung, als sie ihre Schritte nun den Abhang hinunter, auf den Lichtschein der Avenyn zu, beschleunigte.
    Er sah sie kommen – und alles hatte seine Ordnung. Er fühlte sich ruhig, er hatte schon viele Male hier gestanden. Er wusste, was er tun würde. Jetzt war es hier menschenleer und still. Er hatte immer gewusst, was er tun würde, wie er sich verhalten würde, aber alles hatte einmal ein Ende, und er hatte sich gesehnt … wenn die wüssten … das Schwerste war das Grinsen, das Grinsen, das Grinsen, alle in einem Kreis und kein Entrinnen … aber jetzt komme ich raus, jetzt komme ich raus … jetzt werde ich frei.
    Es war eine andere Wirklichkeit, nicht ihre Wirklichkeit.
    Sie sah den Mann aus den Schatten am Teich hervorstürzen. Zuerst glaubte sie, er würde von jemandem verfolgt, und trat einen Schritt beiseite, um nicht in irgendeine Auseinandersetzung hineinzugeraten, aber er kam geradewegs auf sie zu. Sie hatte das Gefühl, neben sich selber zu stehen, sie konnte es nicht glauben, sie wurde herumgerissen, spürte einen schweren Schlag im Nacken und eine brennende Wärme am Rücken und sie nahm wahr, wie ihr Körper ein Stück angehoben wurde, wie ihre Absätze durchs Gras schleiften. Jetzt sind die Schuhe hin, dachte sie. Dann war da jemand, der sich über sie beugte und mit ihr sprach, und sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher