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Geh aus, mein Herz

Geh aus, mein Herz

Titel: Geh aus, mein Herz
Autoren: Ake Edwardson
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von irgendwoher zu kennen, oder Teile des Gesichts. Das passierte Wide zuweilen, das passierte womöglich jedem einmal. Er dachte noch eine Weile über das Gesicht nach, ehe er die Felsen erreichte und stehen blieb und auf die rasenden Schläge seines Herzens lauschte, die in seinen Ohren dröhnten.
    Als Jonathan Wide in die Innenstadt zurückkehrte, begann es zu dämmern. Ihn fror, seine ursprüngliche Absicht, nach Hause zu gehen, hatte er aufgegeben; seine Schritte lenkten ihn zur Avenyn. Drei Minuten stand er vor dem »Lipp«, bevor er es betrat, die Jacke auszog, sich an den Tresen setzte und sich einen Lagavulin bestellte, den er sich eigentlich nicht leisten konnte. Das Tuborg, das jetzt vor ihn hingestellt wurde, konnte er sich auch nicht leisten. Er zahlte.
    Auf der breiten Promenade war nur wenig los. Manchmal schaute jemand durch die Glaswand und sah ihn – einen ziemlich kräftigen Mann mit dichten blonden, in der Mitte gescheitelten Haaren, eine Furche zwischen den Augenbrauen, die ihm ein leicht mürrisches Aussehen verlieh.
    »Sind Sie sauer?«
    Er hatte sie nicht bemerkt, während er die Leute anstarrte, die ihre Nasen gegen die Scheiben drückten. Sie saß auf dem Hocker neben ihm: vielleicht dreißig, höchstens, komplizierte Frisur, breite, ebenmäßige Züge, ein weiter Pullover und Leggings – und Wide spürte fast augenblicklich ein leichtes Zucken in den Schläfen.
    »Nein.«
    »Sie sehen so wütend aus«, sagte sie.
    »Wirklich?«
    »Sind Sie wütend?«
    »Nein.«
    »Aber Sie sehen so aus.«
    »Aha.«
    » The quiet type, hä?«
    »Wie bitte?«
    »Der schweigsame Typ.«
    »Tja …«
    Sie hatte ein wenig getrunken, er merkte es jetzt. Ihre Bewegungen waren etwas zu weit ausholend, die Vokale einen Tick zu lang gezogen. Sie saß wohl schon länger an der Bar. Als er hereinkam, hatte er sie nicht bemerkt. Betrunken war sie nicht. Sie war ihm nicht unangenehm.
    »Warum trinken Sie am helllichten Sonntagnachmittag Whisky? Darf ich mal riechen … igitt.«
    »Mir war kalt.«
    »Ich sitze hier und trinke auch ein bisschen.«
    »Haben Sie einen Grund zum Feiern?«
    » Yeah. Wahrscheinlich bin ich den Scheißkerl los.«
    »So was kann allerdings ein Grund zum Feiern sein.«
    »Was wissen Sie denn davon?«, fragte sie.
    »Nichts.«
    »Aber es ist wirklich ein Grund zum Feiern. Jetzt beginnt für mich ein neues Leben. Darüber denke ich gerade nach.«
    »Viel Glück.«
    »Danke. Ich glaub, ich schaff das … ein neues Leben.«
    »Da bin ich ganz sicher.«
    Sie war etwas näher an Wide herangerutscht, er spürte ihren Arm an seinem, sie kam noch näher, ihre Stimme war ein heiseres Flüstern.
    »Wissen Sie, eigentlich wollte ich nur ein Bier trinken und ein wenig nachdenken. Und dann nach Hause gehen und schlafen. Aber bevor dieser Tag um ist, werde ich mit einem Draufgänger in den besten Jahren und mit neuem Anzug ins Bett steigen.«
    Wide griff nach seinem Whiskyglas, trank den Rest aus, erhob sich schweigend und holte seine Jacke. Er drehte sich um, wobei er ihr Gesicht im Profil sah, und er bemerkte, wie sie dem Barkeeper ein Zeichen gab. Auf der Avenyn hielt er das erste freie Taxi an.
     
    In seiner Wohnung in der Såggatan suchte er eine Traviata -Aufnahme heraus, stellte Avrem lieta di maschare la notte im zweiten Akt ein, machte es sich mit einem Glas Rotwein bequem und dachte kurz an das Gesicht, dem er im Botanischen Garten begegnet war.

2
    Der Tag war längst vergangen, aber die Dunkelheit wurde leicht aufgehellt durch den dichten Regen, der die Straßenbeleuchtung wie eine matt glänzende Haut umgab. Der Abend war wie eine Winternacht voller Schnee, aber der Winter war noch nicht da. Wie gewöhnlich war es ungewiss, ob es vor oder erst nach Weihnachten Schnee geben würde.
    Es war kalt. Der Wind von Nordwesten brachte eiskaltes Meerwasser mit sich, scharf wie Nadelspitzen, die den Einwohnern ins Gesicht peitschten. Es tat weh, durch die Straßen zu wandern, über Plätze und durch Parks.
    Der Fluss zog träge wie eine halb geronnene Arterie durch das Zentrum der Stadt, durch das schwarze Herz, durch den pacemaker, der versuchte, den Mechanismus der Menschen in Gang zu halten, helleren Zeiten entgegen.
    Im Hagapark, in einem Gebüsch neben dem Spielplatz, hatte sich jemand ein Lager errichtet, ein Bett für die Nacht mit sämtlichen Teilen der Göteborgs-Posten: Der dicke Hauptteil reichte von der Brust abwärts, Teil zwei bedeckte die Schultern und Teil drei das Gesicht. Die daliegende
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