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Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Titel: Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
Autoren: Harald Martenstein
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an.
    Sie solle bitte kommen. Er brauche sie. Er sei in eine dumme Geschichte hineingeraten. Eine Schülerin schwärme für ihn, sie bedränge ihn, ohne dass er sie dazu ermutigt habe, alles Weitere wolle er ihr erzählen, wenn sie erst einmal da sei.
    »Wenn ich dich richtig verstehe«, sagte Sibylle Bär leise, »dann soll ich dich vor einer wild gewordenen Lolita beschützen? Ich habe morgen drei Stunden Unterricht. Das wird nicht so einfach sein.«
    Rühl sagte, es sei sehr wichtig.
    Auf dem Weg zurück zur Burg wurde sich Rühl zum ersten Mal darüber im Klaren, dass er gerne Lehrer war. Er wollte nicht, dass diese Geschichte ihm zum Verhängnis wurde. Er war wohl doch kein ganz schlechter Lehrer, die Tatsache, dass N. für ihn schwärmte, war ein Beweis dafür.
    Die Schüler spielten im Burghof Völkerball. Am Nachmittag standen eine Bootsfahrt und ein Besuch der Loreley auf dem Programm. Rühl ging zu seiner Kollegin, er entschuldigte sich ein zweites Mal. Es ginge ihm jetzt besser.
    Er setzte sich auf Treppenstufen. N. beteiligte sich nicht an dem Völkerballspiel, sie stand mit ihrer Freundin ein paar Meter entfernt unter einem Baum und sah zu ihm, mit der linken Hand deutete sie ein Winken an. Rühl nickte zurück, mit einer verhaltenen, vorsichtigen Bewegung, die N. vielleicht gar nicht bemerkte. Beim Mittagessen wartete er, bis N. ihr Tablett beladen und sich gesetzt hatte, dann wählte er einen Platz, der weit von ihr entfernt war, er setzte sich zu einigen Jungen.
    Nach dem Essen rauchte er in dem sich langsam leerenden Speiseraum eine Zigarette. Er bemerkte N. erst, als sie sich bereits neben ihn gesetzt hatte.
    »Was ist denn los? Bist du böse auf mich?« Sie legte ihre Hand kurz auf seine Hand.
    Rühl war fassungslos. Dem Mädchen musste doch klar sein, in welcher Situation er sich befand. Allein schon, dass sie ihn duzte. Das allein schon.
    Rühl sagte: »Wir können über alles reden, wenn wir wieder zurück sind. Jetzt geht das nicht.«
    N. sagte: »Es war wunderschön. Genauso schön habe ich mir das erste Mal vorgestellt. Ich bin total verliebt in dich.«
    Rühl lächelte sie mühsam an. Er spürte, dass er schwitzte. Dieses Kind. Diese lächerliche Klischeesprache. Mein Gott, warum hast du mich verlassen?
    Während des Nachmittags gelang es ihm, Begegnungen mit N. zu vermeiden. Auf dem Boot sprach er fast eine Stunde lang mit dem Kapitän über Flussschifffahrt, er ließ sich jedes Verkehrszeichen am Ufer erklären, jede Boje, jeden Strudel. An der Loreley dagegen hielt er einen längeren Vortrag. Doubek stand langhaarig und ungepflegt in der ersten Reihe. Rühl spürte, dass Doubek ihn fixierte. In Doubeks Augen las er einen Hass, wie er ihn, soweit er sich erinnerte, bei einem Schüler noch nie bemerkt hatte.
    Als sie wieder in der Burg ankamen, regnete es. Im Hof parkte ein Karman Ghia. Sybille Bär saß im Speisezimmer, der Herbergsvater hatte für sie den Fernseher angemacht. Rühl umarmte Sybille Bär, die gelassene Zuversicht ausstrahlte, und stellte sie seiner Kollegin vor. »Meine Freundin«, sagte er, »hat zufällig in der Gegend zu tun. Sybille, ist das nicht ein wundervolles Fleckchen Erde? Du müsstest es erst einmal sehen, wenn die Sonne scheint.«
    Er zeigte Sybille Bär kurz den Blick über das Rheintal, dann holte er ihren kleinen Koffer aus dem Auto und trug ihn nach oben. In der Kammer, die er sorgfältig aufgeräumt hatte, legte er den Koffer aufs Bett. Rühl fühlte sich erleichtert und beschämt. Warum war er so schwach? Warum? Ich kann mich nicht dauernd verstecken, dachte Rühl. Ich muss etwas tun, ich muss endlich aktiv werden.
    Als er wieder nach unten kam, saß N. im Speisezimmer neben Sybille Bär und redete auf sie ein. Sybille Bärs Hand lag auf N.s Schulter. Sie hörte konzentriert zu, mit dem Anflug eines höflichen Lächelns. Der Fernseher lief immer noch.
    Rühl sagte: »Habt ihr euch miteinander bekannt gemacht. Fein.«
    Beide schauten ihn an. Alle drei schwiegen. Plötzlich spürte Rühl, wie in ihm etwas aufriss, wie eine Wunde, und sich unmittelbar danach wieder zusammenzog. Ihm wurde übel. Er murmelte ein paar Worte, die er selber nicht verstand, stützte sich mit einer Hand am Türrahmen ab, machte kehrt und ging wieder nach oben; dort schloss er sich, neben seiner Schlafkammer, in der Toilette ein. Er weinte vor Wut.
    Nach einigen Minuten hörte er Schritte auf der Treppe. Sybille Bärs Stimme rief nach ihm. Rühl hörte, wie die Tür zu seiner Kammer
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