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Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)

Titel: Gefühlte Nähe: Roman in 23 Paarungen (German Edition)
Autoren: Harald Martenstein
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drei Meter entfernt, von Doubek beobachtet wurden. Vielleicht hatte Doubek ihren Dialog mitgehört. Rühl sagte: »Das ist schön«, und ging. Stand er über den Dingen? So hatte er es noch nie betrachtet. Ja. Eigentlich stimmte es.
    Am Vormittag fuhren sie mit einem Reisebus nach Koblenz, zum Deutschen Eck, nachmittags trugen die Schüler ein Tischtennisturnier aus. Doubek siegte. N. gehörte zu einer Gruppe von Schülern, die sich nicht für Tischtennis interessierten und eine kleine Wanderung hinunter zum Rheinufer unternahmen, begleitet von der Kollegin. Rühl versuchte, über den Dingen zu stehen.
    Beim Abendessen setzten sich N. und ein anderes Mädchen an Rühls Tisch, vorher fragten sie um Erlaubnis. Rühls Kollegin lud sie mit einer Handbewegung ein, kein Problem, gerne. Rühl sprach mehr als üblich. Später, als die Schüler sich in den Burghof setzten, redeten, lachten und heimlich Bier tranken, holte Rühl sich aus seinem Zimmer ein Buch, setzte sich auf eine Treppe, von der aus er die Schüler im Blick hatte, und las. N. sprach mit dem Mädchen, das mit ihr am Abendbrottisch gesessen hatte, und schaute von Zeit zu Zeit zu ihm. Einmal ging Doubek zu ihr, nach einigen Minuten begannen sie zu streiten, das zweite Mädchen mischte sich ein, Doubek stand auf und verzog sich. Rühl fragte sich, ob er der Anlass für den Streit war. Dass N. mit ihm flirtete, hatte Doubek wahrscheinlich mitbekommen. Andererseits, was war schon passiert? Nichts.
    Um 22 Uhr sollte die Nachtruhe beginnen. Rühl ging zu den Schülern und erinnerte sie daran, es gab ein leises Murren, aber keinen ernsthaften Widerstand. Alle gingen, wenn auch demonstrativ langsam, zu den Waschräumen und in ihre Zimmer. Auch Rühl ging in seine Kammer. Eine Weile lang waren noch Gespräche und Lachen aus den Schülerzimmern zu hören, dann wurde es leiser.
    Als es klopfte, war Rühl gerade eingenickt, er schaute auf die Uhr, es war ungefähr halb zwölf. Rühl öffnete die Tür und sah N., sie trug ein ärmelloses Hemd und ein Höschen, auf dem Hemd waren lachende kleine Hasenfiguren zu sehen.
    »Ich habe Angst, mir ist unheimlich, darf ich zu Ihnen kommen?«
    Rühl fragte sie, wo die anderen Mädchen aus ihrem Zimmer seien.
    »Die anderen sind alle bei den Jungs und spielen Karten.«
    Rühl trat zur Seite, N. schlüpfte in seine Kammer. Damit war eindeutig die Grenze des Erlaubten übertreten. Rühl fragte sich, was er stattdessen hätte tun sollen. N. zurückzuweisen hätte ein Gespräch erfordert, womöglich ein längeres, Argumente, Gegenargumente, während all dieser Zeit hätte das leicht bekleidete Mädchen barfuß vor seiner Tür gestanden.
    Sie einzulassen war einfacher und unauffälliger. Reden konnten sie auch in seiner Kammer.
    Als N. die Kammer wieder verließ, glaubte er, im Dunkel des Gangs das Gesicht Doubeks zu erkennen, hinten, in Richtung der Toiletten. Aber das war vielleicht auch nur ein Hirngespinst. Er machte sich zu viele Gedanken wegen dieses Jungen. Schon in ein paar Wochen würde Doubek die Schule wechseln müssen.
    Es musste inzwischen zwei oder halb drei sein. Rühl hätte gern ein Foto von seiner Kammer gemacht. Das zerwühlte Bett, die Blutspritzer, die umgestürzte Flasche Rotwein, es sah wie arrangiert aus, Spitzweg auf Abwegen. Dabei war es gar nicht so verrucht gewesen. Das Mädchen hatte, obwohl es den entscheidenden ersten Schritt tat und ihn küsste, erwartungsgemäß wenig Erfahrung, und er war in diesen Dingen weder besonders einfallsreich noch besonders aktiv. Das war ihr aber bestimmt nicht aufgefallen.
    Was nun? Rühls schlechtes Gewissen hielt sich in Grenzen. Er hatte N. nicht verführt, er hatte ihr auch nichts Schlimmes angetan, ein traumatisches Erlebnis konnten die letzten zwei Stunden jedenfalls nicht gewesen sein. Es war eher ein bisschen langweilig gewesen.
    Rühl hörte, dass bei den Jungen gelacht wurde, er hörte auch das Klirren von Gläsern. Er zog sich notdürftig an und kämmte sich. »Dass jetzt aber Ruhe ist!«, schrie Rühl in das Jungenzimmer hinein. »Sonst geht es morgen wieder nach Hause!« N. war nicht in dem Zimmer.
    Am nächsten Morgen entschuldigte sich Rühl bei seiner Kollegin, er könne nicht am Frühstück teilnehmen. Er fühle sich nicht wohl, er müsse zur Apotheke. Den Fußweg zum Ort, der normalerweise eine halbe Stunde dauerte, schaffte er in zwanzig Minuten. Vor einer Telefonzelle wartete er bis zur ersten großen Pause. Dann rief er Sybille Bär in ihrem Lehrerzimmer
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