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Gefluesterte Worte

Gefluesterte Worte

Titel: Gefluesterte Worte
Autoren: Carmen Sylva
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Denkkraft schien sich zu erhöhen, je weniger der Körper vorhanden war. Die Europäer verfielen auf den gegenteiligen Gedanken, sie wollten dem Körper alles zuschieben, was durch ihn hindurchzustrahlen bestimmt ist. Man dürfte aber sein bescheidenes Vielleicht wieder einmal in der Richtung der Inder entsenden und nachforschen, warum sie so große Gewalt über sich und über die ganze Natur erlangten. Vielleicht waren sie der Wahrheit näher gekommen und wußten, daß sie viele Wege bereits zurückgelegt. Vielleicht wacht die Erinnerung besser auf, wenn der Körper überwunden und als nebensächlich behandelt wird, vielleicht sehen wir in einem Spiegel, was früher wir gewesen sind. Ob in der vollkommenen Extase wir unsern jeweiligen Beruf erfüllen, das ist eine andere Frage.
    Aber es muß auch solche geben, die sich zum Wohle der andern in sich selbst zu vertiefen suchen, und ihnen mitteilen, woraus sieentnommen sind. Wir wissen vielleicht gar nicht, wie wahr wir sind, wenn wir von Seelentiefen sprechen, denn wir haben oft Überraschungen von Eigenschaften, die uns verhüllt blieben, bis zu einem gewissen Augenblick. Daß die Seele sich den Leib bis zu einem gewissen Grade modelliert, das wird wohl auch richtig sein, denn der Gesichtsausdruck verändert sich je nach der einen oder andern Eigenschaft, die sich entwickelt, ja die ganze Kopfform verändert sich, der Schädel scheint eine Umbildung zu erleiden, die Bewegungen werden anders, die Form der Hände, der Gang, alles wird gröber, oder was wir vergeistigter nennen, je nach den Beschäftigungen oder Sitten, die zur stärkeren Entwicklung kommen. Wie oft wird der schwächlichste Körper zu unerhörten Leistungen förmlich durch das innewohnende Feuer der Seele gezwungen, und dieser beständige Kampf gegen die ungenügende Materie bringt eine immer steigende geistige Kraft zu Tage. Wer befiehlt denn dem Menschen, der ohne Arme und Beine geboren ist, ein gewaltiger Mathematiker zu werden, oder wenigstens ein Rechenkünstler, der alle in Erstaunen setzt? Wer befiehlt demohne Arme Lebenden, seine Füße zum Malen zu gebrauchen? Die Seele, die den Körper überwinden will, und in dieser Überwindung einen Triumph feiert, wie ihn kein Ringkampf und kein heldenhafter Sieg zur Empfindung bringt. Wie viele Menschen sehen ihren Körper wie einen Feind an, den man täglich bezwingen muß, und der dennoch gehorchen muß, ob er scheinbar kann oder nicht. Das ist doch wohl nicht Materie, welche die Materie beherrscht, oder jedenfalls eine andere Materie, die viel stärker ist, als die sichtbare, oder als diejenige, über die wir uns in unserer Beschränktheit Rechenschaft geben. Das, was wir überirdisch nennen, oder den Naturgesetzen zuwiderlaufend betrachten, ist doch nur das, was wir nicht verstehen. Aber ein Mensch, der noch nie einen Baum gesehen hätte, würde das Wachstum einer Eiche oder einer Buche, oder einer Tanne für ungeheuerlich und unmöglich, den Naturgesetzen zuwiderlaufend, erklären. Was wissen wir überhaupt von den uns umgebenden Gesetzen? Wir tasten umher, um sie zu erkennen, und unsere Entdeckungen weisen uns täglich auf den Grad unserer Blindheit hin.
    Einige Menschen erhoben das sogenannteBöse zum Prinzip, weil sie in ihrem Glauben an einen gütigen Gott nicht erschüttert werden wollten, durch all das Unrecht, das sie sehen mußten und von dem sie nicht glauben konnten, daß ein gütiger oder nur ein gerechter Gott es dulden würde. Aber da steht man wiederum fragend da und kann nicht erklären, warum das sogenannte Böse besteht und geduldet wird, und ob es so böse ist, als es uns erscheint, oder das Gute so gut, als es uns erscheint.
    So vieles ist nur durch Gestalt und Größe bestimmt, was uns in irgend einer Weise beeinflußt. Würde es Raupen geben, die größer wären als wir, wie entsetzlich müßten sie uns erscheinen, ja, wie die Drachen der Fabel oder der grauen Vorzeit.
    Könnte eine Spinne uns das Blut aussaugen, wie gräßlich würde sie uns sein, und wir würden sie gar keinem Studium unterziehen können, sondern uns nur verbergen und entfliehen voller Entsetzen und Grausen. Ja, das heilige Grausen, das die meisten Menschen über allerhand Käfer, Spinnen, Tausendfüßler und Gewürm befällt, ist vielleicht nur der Instinkt des Körpers, der ahnt, daß er dieserTiere sichre Beute ist, sobald der Geist sie nicht beherrscht. Ein sehr tiefer Schlaf ist sicher nur ein Abbild dessen, was Körper und Seele trennt. Der Körper kann in
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