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Gefangen in der Schreckenskammer

Gefangen in der Schreckenskammer

Titel: Gefangen in der Schreckenskammer
Autoren: Stefan Wolf
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überhaupt keine Macht über seine Patienten.“
    „Du hast es erfaßt“, meinte Tim.
    Er hatte sich aufs Bett gelegt und
griff nach einem Buch. Als er Seite 86/87 aufschlug, um weiterzulesen, öffnete
sich die Tür.
    Dr. Hartwig Hartholz spähte herein. Er
hatte Dienst heute abend und würde ihn — wie alles andere auch — untadelig
versehen. Untadelig — das war sein Lieblingswort. Er hielt sich daran, spielte
sich nämlich auf, als wäre er der einzige Mensch ohne Fehler. Er konnte alles,
wußte alles — notfalls besser, verzehrte sich in Ehrgeiz und gab nie eine
Schwäche zu. Eher hätte er sich die Zunge abgebissen.
    „Carsten und Sauerlich“, schnarrte er
durch die Zähne, „wie hat sich der untadelige Internatsschüler zu verhalten —
stets und ständig, nämlich 24 Stunden täglich?“
    „Soll ich antworten?“ fragte Tim.
    „Antworte!“
    „Untadelig!“
    „Richtig.“
    Hartholz schob sich herein. Er war
etwas klein geraten, streckte aber die Wirbelsäule auf volle Länge. Manchmal
ging er auch auf Zehenspitzen. Sein Gesicht war wie Hartholz.
    „Und was gehört dazu, Sauerlich?“
    „Ordnung“, antwortete Klößchen — und
dachte an den Stapel schmutziger Wäsche, der unter seinem Bett lag.
    „Und?“
    „Fleiß“, antwortete Klößchen — wobei
ihm einfiel, daß er sich weder in Englisch noch in Geschichte für morgen
vorbereitet hatte.
    „Und? Du, Carsten!“
    „Sie meinen sicherlich den Gehorsam“,
sagte Tim. „Aber da kann man geteilter Meinung sein. Ich bevorzuge den anderen
Teil der Meinung, Herr Doktor. Nicht Ihren.“
    „Was heißt das?“

    „Gehorsam ist was für Duckmäuser. Auch
ein Schüler darf kritisch prüfen, was von ihm verlangt wird. Wenn die Anweisung
dumm oder schädlich ist, muß er den Gehorsam verweigern. Nur so entwickelt sich
der Schüler zur selbständigen Persönlichkeit. Diese Einstellung halte ich für
untadelig.“
    Hartholz wiegte den Kopf. Ihm war das
zu bedenklich.
    „In deinem Alter, Carsten, steht der
Gehorsam im Vordergrund. Weil dir Erfahrung fehlt und du zu wenig Überblick
hast. Zieh deinen Bademantel an. Da ist ein Anruf für dich. Ich habe ihn in die
Besenkammer gelegt. Kommissar Glockner will dich sprechen.“
    Und das sagt er jetzt erst, dieser Charakter-Fatzke!
dachte Tim. Untadelig wie er ist, hat er’s wahrscheinlich vergessen, als er
herkam. Hat nur sein beknacktes Abfragen im Kopf. Ordnung, Fleiß, Gehorsam.
Dazu einen ordentlichen Haarschnitt und täglich saubere Socken. Dieser
Abschuß-Pauker!
    Das vernichtende Urteil kostete Tim
keine drei Sekunden. Währenddessen stürzte er sich in Bademantel und Latschen,
rannte Hartholz fast um, zischte auf den Flur und die Treppe hinunter — zur
Besenkammer, der Telefonzelle für Schüler.
    Der Apparat bimmelte.
    Tim schloß die Tür hinter sich und riß
den Hörer ans Ohr. „Ja, Herr Glockner?“
    „Das hat aber lange gedauert, Tim.“
    „Ist nicht meine Schuld. Ein
Steißtrommler stand auf der Leitung — auf seiner eigenen.“
    Glockners sonore ( volltönende )
Stimme klang anders als sonst. Tim kannte ihn zu genau, um’s nicht zu merken.
    „Ich habe schon bei Karl nachgefragt“,
sagte der Kommissar. „Bei ihm ist Gaby nicht. Auch bei keiner Klassenkameradin
und bei keinem Mädchen aus dem Schwimmclub. Allmählich mache ich mir Sorgen.
Meine Frau wollte Gaby um acht vom Hallenbad abholen, verspätete sich aber
etwas. Gaby war nicht mehr da. Ist aber auch nicht nach Hause gekommen.“
    Schmerzhaft zog sich Tims Magen
zusammen.
    „...nicht nach Hause gekommen?“
    „Nein.“
    Tims Hände wurden kalt. Er spürte
seinen Herzschlag — ein Gefühl, das ihm sonst fremd war. Galt er doch als
kaltblütig und nervenstark, unerschrocken und mutig bis zur Kühnheit. Er konnte
fast alles verkraften. Nur nicht, wenn Gaby Gefahr drohte.
    „Heh, Tim!“
    „Ja, ich bin noch da. Ich überlege.
Aber ich habe keine Ahnung, wo sie sein könnte. Heute nachmittag haben wir uns
nicht getroffen. Weder Willi noch ich waren in der Stadt. Da muß was passiert
sein, Herr Glockner, sonst hätte Gaby auf Ihre Frau gewartet. Gibt’s denn beim
Hallenbad niemanden, der sie gesehen hat — nach dem Schwimmtraining?“
    „Frau Wachtleben sah, wie Gaby
hinausging.“
    Hinter Tim wurde die Tür geöffnet.
    „Beeil dich!“ sagte jemand. „Andere
wollen auch mal dran.“
    Tim drehte sich um.
    Ausgerechnet der! Von Hasso Feindt hielt
er nichts. Der gehörte zu den Großen, war in der 13. Klasse; ein
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