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Gefangen in der Schreckenskammer

Gefangen in der Schreckenskammer

Titel: Gefangen in der Schreckenskammer
Autoren: Stefan Wolf
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Gummiband aus.“
    „Wenn man nur wüßte“, Klößchen brach
sich ein Stück Schokolade ab, „weshalb Natascha so seelengestört ist?“
    „Ist doch völlig klar, Willi.“
    „Du meinst, weil sie mit Nachnamen Senf
heißt?“
    „Nein. Mit dieser Albernheit lebt sie
seit 14 Jahren, und früher war sie fröhlich. Aber jetzt sind ihre Eltern
auseinandergegangen?“
    „Zu dick geworden?“
    „Willi, die Affenhitze hat sich wohl
auf dein Gehirn gelegt? Nataschas Eltern haben sich getrennt. Erst nur getrennt
— solange hat Natascha noch gehofft, sie könnten wieder zusammenfinden. Aber
die sind anscheinend spinnefeind und wechseln kein Wort mehr miteinander.
Deshalb wurde die Ehe vorige Woche geschieden. So was ist ein ziemlich endgültiger
Bruch. Von Gaby, die Natascha am besten kennt, weiß ich, daß die kleine Senf
ihre beiden Elternteile mag. Gleich gut, offenbar. Aber sie mußte sich
entscheiden, bei wem sie leben will.“
    Klößchen hob den Kopf. „Wußte ich gar
nicht.“
    „Eben.“
    „Und bei wem lebt sie nun?“
    „Bei der Mutter. Aber dem Mädchen fehlt
der Vater. Sie darf ihn zwar besuchen. Aber das ist nicht dasselbe. Traurig,
traurig für Natascha. Ich meine, sie braucht Hilfe, damit sie nicht völlig im
Trübsinn versackt.“
    „Hilfe“, nickte Klößchen, „ist immer
gut. Ich bin dabei. Was tun wir?“
    „Wir können ihr nicht helfen. Wir sind nett zu ihr — wie
immer. Aber das reicht nicht. Sie braucht ärztliche Hilfe. Natürlich die eines
Seelenarztes. Also eines Psychotherapeuten. Das ist ein Facharzt für Seelenheilkunde.
Ist sozusagen schwerstes Kaliber. Zu ihm geht man erst, wenn alle andern
Seelenstricke reißen. Bei Natascha genügt wahrscheinlich ein hauptberuflicher
Psychologe, ein staatlich geprüfter Seelenkundler.“
    „Du meinst Tickel?“
    Ottmar Tickel. Brrrrr! Tim spürte
Magensaft auf der Zunge, wenn er nur an ihn dachte. Er konnte den Mann nicht
leiden. Tickel war Diplom-Psychologe, hatte eine gutgehende Praxis in der Stadt
und außerdem einen Vertrag mit der Internatsschule. Er war hier als Schularzt
für seelische Macken — für gestörtes Verhalten, Gemütskrankheit, Schwermut,
krankhaftes Lügen und Kleptomanie (Stehltrieb). Nicht wenige Schüler
wurden von den Erziehern und Paukern zu Tickel geschickt, um sich dort von der
Seele zu reden, was sie bedrückte. Selbstverständlich fiel alles unter die
ärztliche Schweigepflicht. Was Tickel von seinen Kunden erfuhr, gehörte nicht
ausposaunt oder an die große Glocke gehängt.
    „Nee, Willi. Zu Tickel würde ich
niemanden schicken. Den halte ich nämlich für doppelbödig, für falsch. Und für
hinterhältig. Wenn ich ein düsteres Geheimnis in meiner Seele verwahrte — dem
würde ich’s nicht sagen.“
    „Da stimme ich dir vollinhaltlich zu“,
nickte Klößchen. „Er hat nicht nur eine Gesichtshaut wie Haferschleim — sondern
bestimmt auch eine ganz dünnflüssige Seele. Wie Hafer, Wasser und Salz.
Begreifst du, was die Schmählich an ihm findet?“
    Auch Angelika Schmählich war
Psychologin. Eine nette Person. Tickel verehrte sie heiß und lief sich die Hacken
schief nach ihr. Das wußte fast jeder Schüler — auch, daß man die beiden
neulich in einer Bar gesehen hatte. In einer Tanz-Bar.
    Tim winkte ab. „Sie hat sich von ihm
einladen lassen. Na, schön. Was besagt das? Daß Tickel ein Schleimi ist, wird
sie schon merken. Jedenfalls sollten wir Natascha zu ihr schicken oder sie zu
Natascha.“
    Klößchen nickte. „Florian Immerregen
sagte, vor Tickel müßte man sich in acht nehmen. Der wüßte über jeden Bescheid,
und Wissen sei Macht.“
    „Tickel weiß nicht über jeden Bescheid,
sondern nur über seine Patienten. Die Kunden eines Psychologen werden zwar
anders genannt, aber ich bleibe mal bei dem Wort, ja? Über die weiß er — das
stimmt — wahrscheinlich fast alles. Weil sie mit ihm über ihre Schwierigkeiten
sprechen. Über ihren unbegreiflichen Drang zu lügen, zu stehlen, Tiere zu
quälen, an den Fußnägeln zu knabbern oder bei Vollmond auf dem Dach zu
spazieren. Das alles weiß er. Das hat er notiert in den sogenannten
Krankengeschichten — oder auf Tonbändern. Aber darüber darf er kein Wort
verlieren. Sonst kann er seinen Beruf gleich an den Nagel hängen.“
    „Macht hat er also. Aber er darf sie
nicht anwenden. Ihm sitzt die Schweigepflicht im Genick. Er könnte, selbst wenn
er wollte, niemanden öffentlich zur Schnecke machen — indem er seelische Macken
verrät. Also hat er
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