Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gefallene Engel

Gefallene Engel

Titel: Gefallene Engel
Autoren: Gunnar Staalesen
Vom Netzwerk:
Jakob, als würde das alles erklären.
    Åse machte selbst auf, und ich konnte mich immer noch nicht an sie erinnern. Sie war zehn Jahre jünger als wir und gehörte so gesehen zu einer anderen Generation. Jetzt war sie eine neue Erfahrung, groß, in einer sehr bunten, karierten Schürze, hellbrauner Breitcordhose und mit grauen Filzpantoffeln an den Füßen. Sie war die archetypische Mutter, und ich ahnte, was der Grund dafür war, daß ihre Augen nicht beteiligt waren an dem breiten Lächeln, das der Mund aussandte.
    Wir stellten uns vor, und sie erinnerte sich natürlich auch nicht an mich. Keiner von uns machte den Eindruck, als habe er etwas verpaßt.
    Sie und Jakob beschlossen, daß Grete gleich bis zum nächsten Tag bleiben konnte.
    Dann fuhren wir hinauf nach Stolen und stellten den Wagen ab. Das war das letzte, was wir noch mit völlig klarem Kopf taten. Die nächsten Tage vergingen wie in Trance, so wie es Tage schließlich immer tun, wenn man selbst längst die Kontrolle verloren hat.

3
    Wir fingen ganz klein an, jeder mit seinem Halben, in einem Lokal, das an ein Verkaufslokal für ländliches Kunstgewerbe erinnerte, von den harten Holzbänken bis zu den fülligen Serviererinnen. Die Gesichter der Menschen um uns herum waren aufgedunsen und ausdruckslos, weil sie entweder zu jung waren oder zu viel Bier getrunken hatten. Der Lärmpegel erreichte ungefähr das Niveau eines mittleren Country- und Western-Festivals, bei dem das meiste noch akustisch gespielt wird.
    »Wie lange ist es her, Varg? Daß wir uns das letzte Mal richtig gesehen haben. Ich meine – miteinander geredet.«
    »1965.«
    Sein Blick verlor sich in der Ferne. »1965? Das weißt du noch so genau?«
    Ich nickte.
    »1965«, sagte er. »Johnson war Präsident der USA. Der Vietnamkrieg war in vollem Gang. Die Beatles brachten Rubber Soul ’raus. Die Harpers waren auf der Spitze ihrer Karriere, und du und ich …«
    »Gingen getrennte Wege.«
    Er winkte nach zwei neuen Halben, und sie kamen auf den Tisch, bevor die Blume zusammengesackt war.
    »Das Leben verläuft in merkwürdigen Zirkeln, Varg. Wir könnten geometrische Figuren zeichnen. Schnittpunkte finden …«
    »An den merkwürdigsten Stellen.«
    »Du hast recht. An den merkwürdigsten Stellen.«
    »Was passierte eigentlich mit – den Harpers?«
    Er antwortete nicht direkt, sondern summte die Melodie eines ihrer populärsten Songs und ließ sie in einer häßlichen Dissonanz enden. »Aber wir hatten ein paar gute Jahre, Varg.«
    »Die Harpers?«
    Er schnitt eine Grimasse. »Du und ich. Früher, meine ich.« Er trank einen Schluck. »Ich denke oft zurück an die Kindheit, als die einzige wirklich glückliche Zeit.«
    »Da kannst du recht haben.«
    »Ohne Verantwortung, ohne andere Sorgen als vielleicht, daß irgend jemand uns einen Arschvoll angedroht hatte, nach der Schule, aber wir wußten aus Erfahrung, daß das vorbeiging. Die Woche darauf war so was wieder vergessen.«
    »Meistens.«
    »Die Jahreszeiten, Varg. So lang wie Ewigkeiten. Winter, in denen wir mit Lenkschlitten durch Straßen rasen konnten, in denen fast kein Auto fuhr. Oder uns an den Mindebus hängen, Klosteret runter, ganz bis zu Brown, wenn wir Glück hatten.«
    »Den Bus kapern, nannten wir das.«
    »Ja, genau! Im Sommer, wenn wir vom 17. Mai {1} an in Nordnes badeten. Der Frühling mit unseren Straßenspielen, der Herbst mit Fahrradtouren zu den Apfelgärten in Minde. – All das …« Er preßte die Lippen zusammen und sagte mit dünner Stimme: »Vorbei.«
    »Und der Paul, der am hintersten Pult saß und kommentierte, und dann der Lehrer Bergesen, der sich im Werkraum einen extralangen Zeigestock machen ließ, so daß er auf dem Katheder sitzen und trotzdem dem Paul an den Kopf hauen konnte.«
    »Ja, der Paul! Sollten wir ihn nicht anrufen?«
    »Doch.«
    »Ich mach’s.«
    Während Jakob telefonierte, ließ ich den Eindruck von Country- und Western-Festival auf mich einwirken. Die meisten um uns herum waren halb so alt wie wir und gehörten der VBC-Generation an: Video, Bier und Chips. Der dicke Bauch war ihre Visitenkarte, und sie saßen breitbeinig da, ohne Pferd, und kippten einen nach dem anderen, an einem frühen Winternachmittag im Western Saloon. Draußen hatte sich Dunkelheit breitgemacht, graumeliert vom Schneeregen, künstlich vergoldet durch die giftiggelbe Straßenbeleuchtung von Bryggen.
    Jakob kam zurück, mit zwei neuen Halben. »Ist unterwegs.«
    »Jaja, schon seit Jahren«, sagte ich. »Chronisch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher