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Gefährliche Freiheit

Gefährliche Freiheit

Titel: Gefährliche Freiheit
Autoren: Margaret Peterson Haddix
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verträumter Ausdruck und seine Züge wurden weich.
    »Essen«, sagte er. »Ich wollte einfach bloß essen. Einmal im Leben einen vollen Bauch haben. Das haben doch alle gewollt, die zur Bevölkerungspolizei gegangen sind, oder?«
    Luke zog erneut die Achseln hoch und begann wieder die tote Landschaft zu betrachten. Er wusste, dass die Bevölkerungspolizei sämtliche Nahrungsmittelvorräte des Landes kontrollierte und dass aus jeder Familie wenigstens einer bei der Bevölkerungspolizei arbeiten musste, weil sie sonst kein Essen erhielten. Trotzdem hätte er den Jungen am liebsten angebrüllt: Die Bevölkerungspolizei bringt Kinder um, weißt du das nicht? Kümmert dich das denn gar nicht? Ist dein voller Bauch das Leben anderer Kinder wert?
    Die restliche Fahrt über schwiegen die beiden Jungen. Auch die Männer auf den Vordersitzen schienen sich nichts zu sagen zu haben, stattdessen hielt sich Officer Houk immer wieder das Funkgerät vor den Mund und murmelte: »Erbitte Bericht über den Identifikationsprozess in Searcy« oder »Wie geht es in Ryana voran?« Luke fragte sich, ob er noch andere Einheiten leitete oder ob er einfach nur neugierig war.
    Dann wurden die Furchen und Schlaglöcher auf der Straße so tief, dass der Officer das Funkgerät weglegte und dem Fahrer Anweisungen gab: »Vorsichtig – aah! Das ging auf den rechten Hinterreifen. Die Achse wird doch wohl keinen Schaden genommen haben, was meinen Sie?« Zweimal mussten Luke und der andere Junge aussteigen und schieben. »Blöd. Blöd. Blöd«, glaubte Luke den Jungen murmeln zu hören, »so behandelt man kein Auto.« Doch er unternahm keinen Versuch, mit ihm Blicke zu wechseln oder sich durch ein kumpelhaftes Achselzucken mit ihm zu verständigen.
    Als sie Stunden später endlich in Chiutza ankamen, schwitzte Luke trotz der Kälte, und von dem Geholper taten ihm sämtliche Knochen weh.
    »Los, los«, befahl Officer Houk und scheuchte sie alle aus dem Jeep. »Schafft mir bis« – er sah auf die Uhr – »elf Uhr alle auf den Marktplatz. Jeder übernimmt einen Straßenzug. Anschließend meldet ihr euch zurück und ich weise euch die nächste Straße zu.«
    »Straße« war wirklich übertrieben für die müllübersäten Pfade, die sich vor ihnen erstreckten. Luke konnte gerade noch erkennen, dass es in Chiutza früher einmal, vor vielen, vielen Jahren, sauber gepflasterte Straßen, geteerte Bürgersteige und stabile Häuser gegeben haben musste. Jetzt lag mehr Schotter als Asphalt auf den Straßen, auf den Bürgersteigen taten sich klaffende Löcher auf und die Häuser waren völlig heruntergekommen; die Türen hingen lose in den Angeln und die Fenster waren mit Plastikfolie zugeklebt.
    »Hört auf zu gaffen und macht euch an die Arbeit!«, rief Officer Houk.
    Luke sah den Fahrer und den anderen Jungen nach rechts und geradeaus davoneilen, also wandte er sich nach links. Das erste Haus, zu dem er kam, wirkte irgendwie noch trauriger als der Rest, weil es früher offensichtlich einmal recht stattlich gewesen war. Es hatte zwei Stockwerke, während die meisten anderen nur eines besaßen, und war von einem gestrichenen Zaun umgeben, der inzwischen aus Altersschwäche zusammengebrochen war.
    Er schob ein kaputtes Gartentor zur Seite und ging, um an die Haustür zu klopfen.
    »Aufmachen! Bevölkerungspolizei!«, rief er.
    Und dann begann er zu zittern. Wer war er denn, um diese Worte zu rufen? Er dachte an seinen Bruder Mark, der, als Luke noch ein Kind gewesen war, grausame Spielchen mit ihm getrieben hatte, indem er tat, als seien Lukes schlimmste Albträume wahr geworden. Er erinnerte sich an den Tag, an dem er im Innern eines Hauses diese Worte gehört hatte und sich verstecken musste, um sein Leben zu retten.
    Und er erinnerte sich daran, wie man ihn gefangen und abtransportiert hatte. …
    Verzweifelt drückte Luke gegen die Tür, als könnte er dadurch seinen eigenen Erinnerungen entkommen. Die Tür gab nach und die rostigen Angeln brachen aus dem morschen Holz. Luke stolperte in ein dämmriges Zimmer und fand sich einer alten Frau auf einem verblichenen Sofa gegenüber. Sie saß da und strickte, als hätte sie nicht die geringste Absicht gehabt, die Tür zu öffnen.
    Luke starrte sie an und sie starrte Luke an. Dann sagte sie fast gütig: »Die Tür war nicht abgeschlossen. Du hättest sie nicht aufbrechen müssen.«
    Das Licht brach sich in ihren Brillengläsern, die wie ein Prisma farbige Strahlen aussandten. Ein Kranz aus weißem Haar umgab ihr
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