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Gedrillt

Gedrillt

Titel: Gedrillt
Autoren: Len Deighton
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meinen Mantel ausziehen konnte, kam ein sehr schlanker junger Mann ins Zimmer. Er war dunkelhäutig, mit großen braunen Augen, pockennarbigem Gesicht und kurzgeschorenem Haar, ein Tamile. Berlins neuester Einwandererstrom kam aus Sri Lanka.
    Der Tamile verschlief die Tage und spielte die ganze Nacht Ragas auf seinem Kassettenrecorder. »Hallo, Johnny«, sagte Werner eisig. Die beiden waren einander schon auf den ersten Blick unsympathisch gewesen. Werner mißbilligte Johnnys Trägheit. Johnny mißbilligte Werners Überfluß.
    »Alles okay?« fragte Johnny. Er hatte sich selbst zu meinem Leibwächter ernannt, als Gegenleistung für den
    Deutschunterricht, den ich ihm gab. Ich weiß nicht, wer von uns am meisten von diesem Arrangement profitierte. Ich vermute aber, daß keiner von uns viel davon hatte. Er war als fanatischer Marxist in Ostberlin angekommen, doch sein Glaube hatte den Prüfungen des Lebens in der Deutschen Demokratischen Republik nicht lange standgehalten. Jetzt war er, wie so viele seinesgleichen, in den Westen abgewandert und damit beschäftigt, sich aus Ökologie, Popmusik, Mystizismus,

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    Antiamerikanismus und Hasch eine neue Philosophie zurechtzuzimmern. »Ja, danke, Johnny«, sagte ich. »Ich gehe gerade schlafen.«
    »Du hast Besuch«, sagte Johnny.
    »Um vier Uhr früh?« sagte Werner und warf mir einen Blick zu.
    »Name?« fragte ich.
    Plötzlich tönte ein Schrei über den Hof. Eine Tür knallte auf, und ein Mann stolperte rückwärts heraus und fiel dann, begleitet vom Übelkeit erregenden dumpfen Laut eines Kopfes, der aufs Pflaster schlägt, hin. Durch das schmutzige Fenster konnte ich es im gelben Licht einer offenen Tür sehen. Eine Frau in mittleren Jahren – in kurzem Rock und Büstenhalter –
    und ein langhaariger junger Mann, der eine Flasche trug, kamen heraus und betrachteten die reglose Gestalt am Boden.
    Die barfüßige Frau versetzte dem liegenden Mann ohne allzu großen Krafteinsatz einen Fußtritt. Dann ging sie wieder hinein und kehrte mit einem Hut, einem Mantel und einer Reisetasche zurück, die sie neben den Bewußtlosen hinwarf. Der junge Mann kam mit einer Kanne Wasser heraus und goß sie über ihn aus. Als beide nach innen verschwanden, knallte laut die Tür.
    »Er wird erfrieren«, meinte der immer besorgte Werner. Aber noch während er das sagte, bewegte sich die Gestalt und schleppte sich davon.
    »Er hat sich als Geschäftsfreund ausgegeben«, fuhr Johnny fort, den die Streitigkeiten der schlesischen Familie auf der anderen Seite des Hinterhofs nicht die Bohne interessierten. Ich nickte und überlegte. Leute, die sich als Geschäftsfreunde einführten, erinnerten mich an billige braune Briefumschläge mit der Aufschrift ›Vertraulich‹ und waren mir ungefähr ebenso willkommen. »Ich habe ihm gesagt, er soll oben bei Spengler warten.«
    »Ich sollte ihn mir mal ansehen«, sagte ich. Ich stapfte treppauf. Das Schloß an der Tür, hinter der Spengler ein

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    kleines, muffiges Zimmer bewohnte, war seit langem kaputt.
    Ich trat ein. Spengler – ein junger Alkoholiker, der Schach spielte und Johnny kennengelernt hatte, nachdem er bei einer politischen Demonstration verhaftet worden war – saß auf dem Boden und trank Apfelschnaps aus der Flasche. Es roch bei ihm merklich widerlicher als anderswo im Gebäude. Auf dem einzigen Stuhl im Zimmer saß ein Mann, der versuchte, nicht einzuatmen. Er trug einen Melton-Mantel und neue Autofahrerhandschuhe. Auf dem Kopf hatte er einen braunen Filzhut. »Hallo, Bernd«, sagte Spengler. Er trug einen Ohrring und eine stahlumrandete Brille. Sein Haar war lang und sehr schmutzig. Er hieß nicht wirklich Spengler. Niemand kannte seinen wahren Namen. Angeblich war er Schwede, der mit einem Mann namens Spengler die Papiere getauscht hatte, so daß er für diesen Sozialhilfe kassieren konnte, während der echte Spengler mit seinem schwedischen Paß nach den USA auswanderte. Er ließ sich einen struppigen Bart wachsen, um den Betrug zu unterstützen.
    »Sie wollen mich sprechen?« fragte ich den Mann mit dem Hut.
    »Samson?« Er stand auf und musterte mich von oben nach unten. Er blieb formell: »How do you do? Mein Name ist Teacher. Ich habe eine Nachricht für Sie.« Sein knapper englischer Public-School-Akzent, die geschürzten Lippen und hochgezogenen Schultern unterstrichen seinen Ekel vor dieser verkommenen Behausung und vielleicht auch vor mir. Weiß Gott, wie lange er hier schon auf mich wartete. Volle Punktzahl
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