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Gast im Weltraum

Gast im Weltraum

Titel: Gast im Weltraum
Autoren: Stanislaw Lem
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ersann Großmutter ein neues Kleid für meine Mutter oder meine Schwester, ja sogar für sich selbst. Manche sollten ganz modern werden und die Farbe, das Muster und den Schnitt nach der Temperatur wechseln. Das Rätselraten, welcher Art die nächste Farbe und das nächste Muster sein würden, die auf solch einem Kleid auftauchten, wenn man es in der Sonne ausbreitete, bereitete mir so viel Vergnügen, daß mir vor lauter Lachen die Augen tränten. Während der Anproben schloß sich Großmutter in ihrem Zimmer ein. Die ganze Familie wartete gespannt auf Großmutters neues Kleid. Zum Abendbrot erschien sie, wie immer, in tadellosem Dunkelblau. Auf unsere Frage antwortete sie nur: „Solche Spielereien sind nichts mehr für mich. Dazu bin ich zu alt.“
    Mein Vater weilte zu den verschiedenen Tageszeiten, manchmal auch nachts, außer Haus; denn er war Arzt. Am liebsten ruhte er auf der Veranda und blickte durch seine dunklen Brillengläser in die Wolken. Häufig lächelte er dabei leicht, als belustigten ihn ihre ständig wechselnden Formen. Spielte ich vor dem Haus, dann kam er manchmal zu mir, betrachtete eine Weile von hoch oben meine Bauwerke aus Sand und entfernte sich wieder schweigend. Ich hielt das für ein Zeichen von Strenge. Heute glaube ich, daß er ganz einfach zurückhaltend, vielleicht sogar schüchtern und zaghaft war. Wenn meine Mutter oder meine Großmutter sich bei Tisch an ihn wandten, mußten sie meistens ihre Frage wiederholen, denn er war immer ein wenig abwesend oder zerstreut. In größerem Kreis, wenn zum Beispiel die Onkel bei uns waren, hörte er lieber zu, als daß er selbst sprach. Doch einmal setzte er mich in Erstaunen, ja, erschreckte mich beinahe. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, bei wel cher Gelegenheit ich im Fernsehapparat sah, wie der Vater eine Operation ausführte. Ich wurde zwar gleich aus dem Zimmer gejagt, aber die unklare Erinnerung an etwas Pulsierendes, Zuckendes, Blutendes und etwas Entsetzliches – das Gesicht meines Vaters – blieb in meiner Erinnerung haften. Seine Züge waren wie im Zorn erstarrt, sein Blick schmerzlich gespannt. Diese Szene kehrte in Träumen, die ich fürchtete, immer wieder.
    Die Onkel waren gewöhnlich in den Abendstunden bei uns. Erschienen alle, dann hieß es Sitzung des Familienrates. Sie hockten bis in die späte Nacht hinein im Speisezimmer unter dem großen Liliodendron, dessen fingerförmige Blätter die Sessel überdachten. Den ersteh Familienrat, den ich erlebte, werde ich nie vergessen. Ich schreckte mitten in der Nacht aus einem Traume auf, begann vor Angst zu weinen und lief, als niemand kam, um mich zu beruhigen, in meiner kindlichen Verzweiflung, so rasch ich konnte, durch die dunklen Gänge in das Speisezimmer. Meine Mutter war nicht da. Ich wollte auf die Knie des Onkels Narian klettern, den ich in der Nähe der Tür erblickte. Aber wie erschrak ich, als meine ausgestreckten Hände durch die Gestalt des Onkels ins Leere, in die Luft griffen. Mit durchdringendem Geschrei stürzte ich auf meinen Vater zu. Er hob mich hoch, wiegte mich lange in seinen Armen und erklärte: „Aber, aber, Söhnchen, du brauchst doch keine Angst zu haben. Siehst du, Onkel Narian ist ja nicht wirklich hier, er sitzt jetzt bei sich zu Hause in Australien und ist nur als Fernsehbesuch zu uns gekommen. Du weißt doch, was ein Fernsehapparat ist. Er steht hier auf dem Tischchen, und wenn ich ihn ausschalte, dann verschwindet der Onkel… so… knacks! Siehst du, fort ist er.“
    Mein Vater war der Ansicht, daß man einem Kinde diese unverständliche Erscheinung genau erklären müsse, dann würde es nicht mehr erschrecken. Ich muß indessen zugeben, daß ich mich bis zu meinem vierten Lebensjahr nicht mit den Fernsehbesuchen meiner Onkel befreunden konnte. Onkel Narian wohnte bei Canberra, Amiel hinter dem Ural, der dritte, Orchild, hielt sich einmal in Transvaal, dann wieder am Südabhang des Eratosthenes auf, verbrachte aber wohl die Hälfte seines Lebens in der Leere des interplanetaren Raumes, wo er ausgedehnte technische Arbeiten leitete, und der vierte, Merlin, der älteste Bruder meines Vaters, wohnte auf Spitzbergen, ungefähr eintausenddreihundert Kilometer von uns entfernt. Er war jeden Sonnabend in eigener Person bei uns zu Gast.
    Ich muß jetzt einen gewissen Familienmythus erwähnen, der durch meinen Großvater in die Welt gesetzt worden war und sich nun von Generation zu Generation weitervererbte. Meine Großmutter zeichnete sich bei
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