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Gast im Weltraum

Gast im Weltraum

Titel: Gast im Weltraum
Autoren: Stanislaw Lem
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Schwestern auf ihrer Seite hatte, siegte. Der Vater übersiedelte schließlich in das obere Stockwerk.
    Das Haus hatte eine lange und ehrwürdige Geschichte. Es war gegen Ende des 28. Jahrhunderts erbaut worden und stand damals an der Autostraße, die nach Meoria führte. Als aber mit der Zeit das Flugwesen die Landverbindungen im ganzen Umkreis völlig verdrängte, wich sie der natürlichen Expansion des Waldes. Die Trasse, auf der sie einst verlief, ist heute nur noch an den Bäumen zu erkennen, die jünger sind als die anderen.
    An das Innere des Hauses kann ich mich kaum noch erinnern. Wie durch den Schleier der Wimpern, aus der Ferne gesehen, steht es vor mir, leuchtet durch das Gehölz, was durchaus verständlich ist, denn ich war fast ständig im Garten, so, als wohnte ich in ihm. Dort gab es ein kunstvolles, aus lebenden Zäunen gebildetes Labyrinth. An seinem Eingang hielten schlanke Pappeln Wache. Hinter ihnen begann ein geheimnisvolles Durcheinander schattiger Fußwege, die nach langer Wanderung – eigentlich Jagd, denn man wandert noch nicht, wenn man vier Jahre alt ist – zu einem hohen Altan führten, der von dichtem Efeu umrankt war. Durch die Lücken zwischen den Blättern überblickte man den ganzen Wald, der sich bis an den westlichen Horizont erstreckte, wo in gleichmäßigen Zeitabständen feurige Linien senkrecht emporschossen. Unser Haus war kaum achtzig Kilometer von dem Raketenstartplatz in Meoria entfernt. Ich wäre wohl noch heute imstande, mit geschlossenen Augen jeden Zweig, jede Astgabel an diesem Altan zu zeichnen. Auf ihm erhob ich mich über die Wolken, durchschiffte weite Ozeane, war Kapitän auf großer Fahrt, Raketenpilot, Astronaut, Schiffbrüchiger im leeren Raum des Planetensystems, Entdecker neuer Gestirne und ihrer Bewohner und manchmal alles zusammen.
    Mit meinen Geschwistern spielte ich nicht, der Altersunterschied war zu groß. Die meiste Zeit widmete mir die Großmutter, und mit ihr verbinden mich auch meine ersten Erinnerungen. Wenn sich die Mittagsstunde näherte, kam sie in den Garten, fand mich auch im wildesten Dickicht, nahm mich auf den Arm, trat mit mir auf die Terrasse hinaus, und wir sahen zum Himmel auf, um das kleine Flugzeug meines Vaters zu entdecken, das rot und rund war wie eine der Pfingstrosenknospen vor unserem Hause. Ich hatte immer Angst, daß der Vater den Weg verfehlte.
    „Ach, du Dummchen! Väterchen findet uns, er fliegt dem Faden aus dem Radioknäuel nach“, tröstete mich die Großmutter und wies auf die Antenne, deren silbrigglänzender Stab über dem Dach emporragte. Ich riß meine Augen auf, so weit ich konnte. „Großmutter, dort ist doch gar kein Faden!“
    „Deine Augen sind noch zu klein. Du wirst ihn schon sehen, wenn du erst größer bist.“
    Großmutter war damals erst sechsundachtzig Jahre alt, kam mir aber unerhört alt vor. Ich glaubte, sie hätte immer so ausgesehen. Sie kämmte ihr graues Haar glatt nach hinten und flocht es zu einem schweren Knoten. Großmutter bevorzugte in ihrer Kleidung Violett und Blau und trug außer einem schmalen Goldreif am Ringfinger keinerlei Schmuck. An dem Ring blitzte ein rechteckiger Stein. Uta, meine ältere Schwester, verriet mir einmal, daß in diesem Kristall die Stimme meines Großvaters aus der Zeit festgehalten sei, als er noch jung war und Großmutter liebte. Das faszinierte mich geradezu. Im Spiel näherte ich mein Ohr verstohlen dem Ring, hörte aber nichts und beklagte mich enttäuscht über Uta. Meine Großmutter versuchte lächelnd mich zu überzeugen, daß Uta die Wahrheit gesprochen habe. Als das alles nichts half, nahm Großmutter eine kleine Dose aus dem Schreibschrank und berührte sie mit dem Ring. Eine männliche Stimme klang durch den Raum. Ich verstand die Worte zwar nicht, war aber befriedigt und wunderte mich sehr, als ich bemerkte, daß meiner Großmutter Tränen über die Wangen rannen. Nach kurzem Überlegen fing ich ebenfalls zu weinen an. Da trat meine Mutter ins Zimmer und sah uns beide bitterlich schluchzen.
    Als Großvater noch lebte – er starb vor meiner Geburt – , entwarf Großmutter Modelle und Musterzeichnungen für Kleider. Nach seinem Tode hörte sie auf zu arbeiten und übersiedelte in das Haus ihres jüngsten Sohnes, meines Vaters. Von früher bewahrte sie noch Stöße von Mappen mit Modellzeichnungen auf. Ich liebte es, diese Mappen durchzublättern und anzuschauen, denn es waren viele sonderbare und komische Zeichnungen darunter. Von Zeit zu Zeit
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