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Gassen der Nacht

Gassen der Nacht

Titel: Gassen der Nacht
Autoren: Jason Dark
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Schritte waren es bis zum Spiegel. Einen kam er nur weit.
    Dann blieb er so ruckartig stehen, als hätte ihm jemand eine Messerklinge gegen den Hals gedrückt.
    Aus dem Spiegel drang ein furchtbares Heulen!
    Das war nicht das Heulen von einer Sirene oder einem grellen Kinderspielzeug. Es war vielmehr der schreckliche Schrei einer gequälten Kreatur oder eines Wesens, das in einem Anfall von rasender Wut dieses Geräusch ausgestoßen hatte.
    Für Temple jedenfalls war es nicht nachzuvollziehen. Er konnte sich nicht vorstellen, wer dieses Heulen ausgestoßen hatte. Es klang auch nicht menschlich, für ihn war es nichts anderes als eine fürchterliche Botschaft aus der Hölle.
    Und - was die Sache für ihn noch schlimmer und unbegreiflicher machte, das Heulen war aus dem Spiegel gedrungen. Er lauschte ihm nach.
    Es hallte durch sein Geschäft, es warf Echos, als würde es gegen kahle Wände prallen, es schwoll an, es wurde schrill, dann klagend, als läge eine Kreatur im Sterben, es erholte sich wieder, erinnerte plötzlich an ein kaltes Kreischen irgendwelcher metallenen Wesen, die aus einer anderen Sphäre erschienen waren und angriffen.
    Es wurde so schlimm, daß der Mann es nicht mehr ertragen konnte und sich die Ohren zuhielt.
    Dann war es still.
    Er merkte es zunächst nicht. Walt ließ seine Hände sinken und hörte allein sein Keuchen, das ihm ebenfalls so furchtbar und fremd erschien, als würde nicht er es ausstoßen, sondern jemand, der in seinem Körper lebte.
    Beide Hände preßte er gegen die Brust.
    Sein Herz schlug schneller, schon unregelmäßig. Ein Zeichen, daß sein Innerstes auf Sturm stand.
    Er senkte den Kopf.
    Der Boden vor ihm hatte sich in ein braunes Meer verwandelt, in dem sich die Bohlen auf-und abbewegten. Er hatte den Eindruck zu schwimmen, deshalb breitete er die Arme aus, fand auch Halt, aber das Schwingen hörte nicht auf.
    In diesem Moment gelang es ihm tatsächlich, sich zur Ruhe zu zwingen. Was nicht einfach war. Er dachte kurzerhand an andere Dinge, an seinen Bruder, seine verstorbenen Eltern, aber auch an einen Urlaub, den er in Kanada verbracht hatte. Da gehörte nichts zusammen, aber das sollte es auch nicht. Es reichte ihm, wenn er sich durch nichts ablenken ließ. Dabei bewegte er kauend den Mund, ohne etwas zu essen, und er hämmerte sich immer wieder ein, daß dieser Schrei gar nicht gewesen war, daß er ihn sich nur eingebildet hatte oder er ihn selbst ausgestoßen hatte - oder das Fremde, das er in sich gespürt hatte.
    Das war leicht zu erklären, wenn er sich sein Spiegelbild betrachtete. Das Licht reichte nicht ganz bis an die Fläche heran, es verschwamm kurz davor, aber es erhellte den Spiegel noch so weit, daß er sich darin erkennen konnte.
    Sich selbst? Oder sah er darin einen anderen? Gab der Spiegel überhaupt sein Konterfei zurück?
    Walt war unsicher geworden. Wieder kroch Kälte über seinen Rücken und setzte sich in Höhe des Nackens wie kleine Eiskörner fest. Temple starrte nach vorn.
    Langsam hob er seinen linken Arm. Die Gestalt im Spiegel reagierte ebenfalls und hob den Arm an.
    Also weiter.
    Die Hand zur Faust ballen. Auch das tat sein Spiegelbild. Dann noch mehr. Die Faust vorstrecken, sie wieder öffnen und die Hand gegen die Spiegelfläche legen.
    Alles war normal. Die andere Hand kam ihm entgegen, sie öffnete sich auch.
    Verdammt noch mal, weshalb glaubte er dann, daß sich im Spiegel ein anderer befand? Das war doch Irrsinn, eine Halluzination. Das konnte er nicht begreifen.
    Jetzt bewegte er seinen Kopf.
    Den Arm ließ er dabei ausgestreckt, auch den Kontakt mit der Spiegelfläche löste er nicht.
    Nahe, noch näher…
    Das Gesicht, sein Gesicht, dazu das andere. Es war alles so rätselhaft, so anders.
    Das Erschrecken traf ihn wie ein Glutstoß!
    Auf einmal wußte er, woran es lag. Und es war so schlimm, daß er einen Schrei nicht unterdrücken konnte.
    Es war der Kopf, das Gesicht, also beides zusammen. Es gehörte nic ht ihm, verdammt, das konnte doch nicht sein, wo doch die Körper identisch waren.
    Aber nicht der Kopf.
    Er gehörte einem anderen!
    Sein Spiegelbild mit einem fremden Kopf!
    Wieder spürte er den scharfen Stich, als hätte ihm jemand eine glühende Lanze in den Leib gestoßen. Walt Temple hielt den Mund offen. Im linken Winkel rann Speichel über seine Unterlippe und hinterließ einen glänzenden Streifen. Hinter seiner Stirn hämmerte es. Da zuckten Gedanken wie Feuerzungen in sein Hirn, explodierten dort, als wollten sie die
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