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Fürchtet euch

Fürchtet euch

Titel: Fürchtet euch
Autoren: Wiley Cash
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als wollte er seine verbrannte rechte Hand vor mir verbergen. Dann saßen wir beide eine ganze Weile stumm da. Ich schlug die Füße übereinander und beugte mich ein kleines bisschen vor, so dass mein Rücken nicht mehr die Lehne berührte, und er saß einfach da, die Füße fest auf dem Boden, die Hände im Schoß, die linke über die rechte gelegt, die ich so kaum sehen konnte.
    Irgendwer hatte an der Vorderwand hinter dem Podium eine Reihe Bilder und Kalender aufgehängt, mit allen möglichen Darstellungen von Jesus Christus: Jesus betend im Garten Gethsemane, Jesus bei der Ausgießung des Heiligen Geistes, Jesus, wie er dem ungläubigen Thomas die Hände hinstreckt, um ihm zu zeigen, wo sie von den Nägeln durchbohrt worden waren. Von meinem Platz aus konnte ich sehen, dass ein alter Kalender vom Bestattungsinstitut Samuels dabei war und ein paar andere von Geschäften in Marshall und Hot Springs und einer von einer alten Bank. Manche Kalender waren so alt, dass man nur noch die Bilder erkennen konnte, weil die Schrift inzwischen unleserlich war. Genau in der Mitte der Wand, zwischen den vielen Kalendern und Bildern, hing ein großes gerahmtes Gemälde, das Mose zeigte, wie er vor dem brennenden Dornbusch eine Schlange hochhält. Ich saß da und betrachtete das Bild von Mose und stellte mir vor, wie der Stab vor seinen Augen im Staub lebendig wurde, und ich fragte mich, wie er sich wohl gefühlt hatte, als die Stimme des Herrn ihm befahl, die Schlange am Schwanz zu fassen. Ich blickte von dem Gemälde zu der Kiste auf dem Boden vor Chambliss.
    »Ich weiß, dass der Sheriff bei Ihnen war«, sagte er.
    »Ja«, erwiderte ich. »Das war er.«
    »Und ich schätze, er hatte ein paar Fragen, was wohl am Sonntag hier passiert ist.«
    »Er hatte ein paar Fragen«, sagte ich. »Aber ich hatte keine Antworten für ihn. Ich habe ihm gesagt, ich könnte nichts dazu sagen, was ihr hier in der Kirche macht. Ich gehöre nicht mehr hierher, und obwohl ich seit über fünfzig Jahren in dieser Kirche bin, gehöre ich schon sehr lange nicht mehr hierher. Das habe ich ihm gesagt.«
    »Wo gehören Sie denn hin, Schwester Adelaide?«, fragte er mich. Er wandte den Kopf und sah mich mit dem wohl ausdrucklosesten Blick an, den ich überhaupt je im Gesicht eines Menschen gesehen habe. Ich starrte zurück, und dann registrierte ich eine Bewegung, und als ich nach unten schaute, sah ich, dass sich diese furchtbare Hand zur Faust geballt hatte, was er mit der linken kaschieren zu wollen schien. Da ihm das aber nicht ganz gelang, begnügte er sich offenbar damit, sich mit den Fingern über den Handrücken zu streichen, und ich saß einfach bloß da und starrte auf seine Finger, ohne den Blick davon losreißen zu können.
    »Wo gehören Sie hin?«, fragte er wieder. Seine Finger hörten auf, sich zu bewegen, und er öffnete die Faust und legte beide Hände flach auf die Oberschenkel. Ich sah ihm ins Gesicht.
    »Ich gehöre zu den Kindern dieser Gemeinde«, sagte ich.
    »Tatsächlich?«, fragte er.
    »Wenn ich es doch sage.«
    »Sie sind bibelfest, nicht wahr, Schwester Adelaide?«
    »Ja«, sagte ich. »Ich kenne mich in der Bibel sehr gut aus.«
    »Dann kennen Sie sicherlich Matthäus 9 : 33 «, sagte er. »Wo es heißt: ›Und da der böse Geist war ausgetrieben, redete der Stumme.‹ Und wahrscheinlich kennen Sie auch Matthäus 17 , wo der Mann seinen mondsüchtigen Sohn zu Jesus bringt, weil er von einem bösen Geist besessen ist und die Jünger ihm nicht helfen konnten, weil ihr Glaube zu schwach war.«
    »Ich kenne die beiden Geschichten. Ich habe sie viele, viele Male gelesen.«
    »Das sind keine Geschichten«, erwiderte er. »Glauben Sie mir ruhig, wenn ich es Ihnen sage.« Er sah von mir weg und blickte zu der Wand mit den vielen Bildern von Jesus. »Jesus hat diesen Jungen aus dem Matthäus-Evangelium geheilt«, sagte er. »Er hat den Jüngern gesagt, ihr Glaube sei nicht groß genug, und er hat ihnen versprochen, selbst wenn ihr Glaube so klein wie ein Senfkorn wäre, könnten sie damit Berge versetzen.« Er nahm den Blick von den Bildern und sah mich wieder an. »Mehr wäre nicht nötig gewesen, Schwester Adelaide, nur dieses kleine bisschen Glaube, aber es reichte nicht. Sie hatten nicht genug Glaube, um den bösen Geist zu vertreiben. Jesus musste es selbst tun.«
    »Sie sind kein Jesus«, sagte ich. »Und Christopher hatte keinen bösen Geist in sich. Er ist so geboren worden. Ich war dabei, als er zur Welt kam, und ich kann
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