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Fürchtet euch

Fürchtet euch

Titel: Fürchtet euch
Autoren: Wiley Cash
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gesagt«, erwiderte ich. »Und ich wünschte, er wäre heute zu Christophers Beerdigung gekommen. Ich finde es nicht richtig, dass er nicht da war.«
    »Er hielt es für besser, nicht zu kommen«, sagte sie. »Nach allem, was passiert ist, meine ich.«
    »Ist das denn richtig?«, entgegnete ich. »Da stirbt ein kleiner Junge in seinem Gottesdienst, und er bleibt einfach weg. So was finde ich nicht richtig.« Ich stand vom Bett auf, knipste die Lampe auf dem Nachttisch an und ging zum Schrank, wo mein Nachthemd innen an der Tür hing. »Sie wollen nicht vielleicht mitkommen?«
    »Er hat gesagt, Sie möchten allein kommen«, sagte sie.
    »Wundern tut mich das nicht«, antwortete ich.
    *
    Es stand kein einziges anderes Auto auf dem Parkplatz außer seinem alten Buick und meinem. Ich öffnete die Autotür, schwang die Füße nach draußen auf den Asphalt und blickte über die Straße hinüber zur Böschung, die zum Flussufer abfiel. Der Stadtkern von Marshall befand sich etwa eine Meile flussaufwärts, zu weit weg, um die Geräusche von Autos oder Stimmen oder andere Dinge zu hören, die man an einem Donnerstagabend in einer Kleinstadt normalerweise hört. Marshall lag ganz still da, als wäre keine Menschenseele auf der Straße. Ich drehte mich zur Kirche um und sah die grünen Wiesen, die sich dahinter erstreckten, und die Bäume, die weiter hinten an den Wiesenrändern aus dem Wald aufragten. Es war kein Laut zu hören außer dem bisschen Wind und dem Klang des Flusses, der auf der anderen Straßenseite leise dahinströmte. Ich stieg aus dem Auto, schloss die Tür und blieb scheinbar endlos lange so stehen, während ich versuchte, mir vorzustellen, was Sonntagabend hier passiert sein mochte und was mit mir passieren würde, wenn ich hineinging.
    Ganz ehrlich, als ich in die Kirche trat, war mir, als würde ich in dunkle Nacht treten. Da die Zeitungen vor den Fenstern die Sonne aussperrten und die Wände noch dazu mit dunklem Holz getäfelt waren, brauchten meine Augen eine ganze Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Zu Anfang sah ich die Hand vor Augen nicht. Schließlich konnte ich an den Stellen, wo die Kühlgeräte herausgerissen worden waren, den nackten Zementboden unter den kaputten Linoleumfliesen hervorlugen sehen. Der Raum hatte sich in zehn Jahren kein bisschen verändert. Ich folgte den Bodenfliesen zur Mitte des Raumes, wo die Klappstühle einen Gang freiließen, durch den man bis ganz nach vorne zum Podium gehen konnte. Ich erkannte schemenhaft, dass Chambliss auf einem Stuhl in der ersten Reihe saß. Er hatte mir den Rücken zugewandt und drehte sich selbst dann nicht um, als die Tür sich hinter mir schloss. Er drehte sich auch nicht um, als er mich ansprach. Er blieb einfach da sitzen und blickte geradeaus.
    »Schwester Adelaide«, sagte er. »Ich hatte gehofft, Sie würden sich überwinden, hereinzukommen.«
    »Julie hat gesagt, Sie wollten mich sehen. Und da bin ich.«
    »Und da sind Sie«, wiederholte er. »Ich bin froh, dass Sie gekommen sind. Schön, Sie wieder in unserer Kirche zu haben.« Er legte einen Arm auf den Stuhl neben sich, drehte sich dann endlich um und sah mich an. »Kommen Sie doch her und setzen sich zu mir.« Jetzt konnte ich sein Gesicht gut erkennen, und abgesehen von den ergrauten Schläfen hatte er sich kein bisschen verändert. In seinen Augen lag noch genau die gleiche Kälte und Distanz wie früher.
    Ich ging den Mittelgang hinunter, vorbei an den Klappstuhlreihen. Es herrschte Totenstille, weil er das Klimagerät am Fenster nicht eingeschaltet hatte und auch keiner von den Bodenventilatoren lief, und die heiße, stickige Luft raubte mir fast den Atem. Als ich zu den Stühlen in der vordersten Reihe kam, sah ich, dass Chambliss eine von den Holzkisten direkt vor sich auf dem Boden stehen hatte. Sie hatte oben eine kleine Klappe mit Scharnieren, und ich konnte sehen, dass der Verschluss der Klappe offen war. Ich blieb stehen und starrte darauf und dann sah ich Chambliss an. Er blickte unverwandt zu mir hoch und lächelte, als wäre ihm gerade etwas Lustiges eingefallen, das er mir erzählen wollte. Sein linker Arm lag noch immer auf der Rückenlehne des Stuhls neben ihm. Er nahm ihn runter und klopfte auf die Sitzfläche.
    »Setzen Sie sich«, sagte er. Ich wollte nicht so nah bei ihm sitzen, also ging ich an ihm vorbei und nahm ein paar Stühle weiter rechts von ihm Platz. Als ich das tat, nahm er den Arm weg und bedeckte seine rechte Hand mit der linken,
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