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Fürchtet euch

Fürchtet euch

Titel: Fürchtet euch
Autoren: Wiley Cash
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reden?«, fragte er. »Sie waren dabei. Sie haben es gesehen. Molly ist im Glauben vorgetreten, und der Herr hat sie heimgerufen.«
    »Aber das ist falsch«, sagte ich. »Was ihr mit ihr gemacht habt, ist falsch.«
    »Was soll das heißen ›falsch‹?«
    »Es ist falsch, was ihr nach der Kirche mit ihr gemacht habt«, sagte ich. »Sie nach Hause zu bringen und in den Garten zu legen und sie einfach da liegen zu lassen, in der Hoffnung, es würde sie schon jemand finden, bevor irgendwelche Tiere sie anknabbern. Die Leute haben ein Recht, so was zu erfahren.«
    »Was für Leute?«, fragte er. »Alle, denen sie wirklich etwas bedeutet hat, und alle, die ihr etwas bedeutet haben, wissen, was passiert ist. Sie alle waren dabei, als es passiert ist. Niemand sonst hat Anspruch darauf, mehr zu erfahren. Außerdem muss in dieser Welt überhaupt niemand irgendetwas wissen. Es würde Schwester Jameson kein bisschen nützen, und uns würde es nur Ärger einbringen.« Er ließ die Hand von den Augen sinken und blinzelte in die Sonne.
    »Die Leute reden«, sagte ich. »Besonders in einer Stadt wie Marshall, besonders über eine Kirche wie diese. Die paar Zeitungen vor den Fenstern, damit keiner was sieht, hält sie nicht vom Reden ab.«
    »Nun«, sagte er, »ich bin sicher, meine Gemeindemitglieder wissen, mit wem sie reden sollten und mit wem nicht. Aber falls Sie mit dem Gedanken spielen, mit irgendwem außerhalb der Kirche über unsere Angelegenheiten zu sprechen, dann wäre es mir lieber, Sie sagen mir das auf der Stelle. Ich muss schließlich wissen, wem von meinen Gemeindemitgliedern ich das Werk des Herrn anvertrauen kann und wem nicht.«
    »Kein Problem«, sagte ich. »Ich kann hier nämlich nicht mehr mitmachen.«
    »Was haben Sie vor?«, fragte er.
    »Ich kann hier nicht mehr mitmachen«, wiederholte ich. »Ich trete aus der Gemeinde aus, und ich nehme die Kinder mit.« Er lächelte und sah mich an, als würde er mir gleich ins Gesicht lachen.
    »Tatsächlich?«, erwiderte er. »Sie wollen einfach die Kinder aus meiner Kirche nehmen und sie auf Ihre Art und in Ihrem Glauben unterrichten. Wie kommen Sie darauf, das Recht dazu zu haben?«
    »Ehe das Krankenhaus gebaut wurde, habe ich als Hebamme so ziemlich jedes Kind auf die Welt geholt, das je einen Fuß in diese Kirche gesetzt hat«, sagte ich. »Und ich habe auch so ziemlich alle ihre Mamas und Daddys auf die Welt geholt. Zugegeben, ich bin nicht für ihre Seelen zuständig, aber nachdem ich sie auf die Welt geholt habe, fühle ich mich für ihre Sicherheit in dieser Welt verantwortlich. Und eines weiß ich genau: Das hier ist kein Ort für Kinder mehr. Es ist hier einfach nicht sicher.«
    »Schwester Adelaide«, sagte er, »so lange, wie ich schon Seelsorger dieser Kirche bin, sollten Sie eigentlich wissen, wie wir unsere Kinder schützen, und ich kann Ihnen versichern, ich würde niemals zulassen, dass ein Kind eine Schlange in die Hand nimmt oder Gift trinkt. Und so lange, wie Sie schon bei uns sind, sollten Sie eigentlich wissen, dass das, was wir hier tun, die ›Wahrheit‹ ist, und dass unsere Kinder sie sehen müssen. Unsere Kinder müssen darin erzogen werden.«
    »Und Sie sollten eigentlich wissen, dass Kinder alles weitererzählen, was sie sehen, und kein Geheimnis für sich behalten können«, entgegnete ich.
    Er verschränkte die Arme vor der Brust und wippte leicht auf den Stiefelabsätzen nach hinten. Er drehte den Kopf und schaute über den Fluss Richtung Marshall, als würde er darüber nachdenken, was ich gesagt hatte. Dann wandte er den Kopf wieder zu mir und sah mich an.
    »Können Sie das denn, Schwester Adelaide? Können Sie ein Geheimnis für sich behalten?«
    »Allerdings«, sagte ich. »Aber am liebsten möchte ich keine Geheimnisse kennen, die ich für mich behalten muss, und ich werde keine mehr kennen, wenn ich nicht mehr in Ihre Kirche komme. Eine Kirche ist kein Ort, an dem die Wahrheit versteckt werden sollte, und eine Kirche, die so was macht, ist nicht die richtige für mich. Und schon gar nicht für Kinder.«
    *
    Chambliss verzieh mir nie, dass ich die Kinder aus seiner Kirche nahm. Damals warnte er mich, wenn ich der Kirche den Rücken kehrte, würde mein Leben nie mehr so sein wie vorher, die Leute würden mich nie mehr so akzeptieren wie früher und ich wäre für immer eine Ausgestoßene. Ich erwiderte, ich würde ja nicht der Kirche den Rücken kehren, sondern nur ihm, aber ich wusste, dass er recht hatte. Ich verlor
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