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Fürchte dich nicht!

Fürchte dich nicht!

Titel: Fürchte dich nicht!
Autoren: Grafit
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wieder zu Hause war, hatte sie so etwas Ähnliches wie Zufriedenheit gefühlt. Ihr Körper, der sie so oft schmählich im Stich ließ, war angenehm locker und leicht gewesen. Die Sache mit Heiner schien endlich überwunden. Ein paar Wochen war das jetzt her, dass er seine Zahnbürste mitgenommen hatte. Dabei hatte sie von vornherein gewusst, dass die Beziehung zum Scheitern verurteilt war. Sie konnte nicht mit einem Mann zusammenleben, sie konnte es nicht ertragen, mit ihm in einem Bett zu liegen, seinen Atem im Nacken zu spüren. Seine Hände, die ihren Körper abtasteten. Sie hatte es wirklich gewollt. Sie mochte Heiner. Zum ersten Mal seit Jahren hatte sie für einen Mann Gefühle entwickeln können. Und Heiner gab sich Mühe. Er zeigte Verständnis, verlangte nicht viel von ihr. Doch das wenige war mehr, als ihr Körper geben konnte. Wenn Heiner in sie eindrang, verkrampfte sie. Danach kamen die üblichen Beschwerden, Vaginalpilz, Blasenentzündung, morgendliche Übelkeit. Sie wollte, aber ihr Körper wollte nicht. Schließlich hatte sie die Entscheidung ihres Körpers akzeptiert. Heiner musste gehen.

    Gestern Abend war das fast vergessen. Gestern Abend. Verdammt lange her. Mehr als acht Stunden. Sie hatte Pläne geschmiedet. Mal wieder laufen. Nicht auf dem Stepper in ihrer Wohnung, sondern open air. In dem Park ganz in der Nähe. Jeden Morgen nach dem Aufstehen ein paar Runden drehen. So wie früher. Vor dem Tag X.
    Verrückt! Genauso verrückt wie die Idee, mit der U-Bahn zur Arbeit zu fahren.
    Der Mann neben ihr faltete seine Zeitung zusammen und stand auf. Endlich. Hansaplatz. Noch drei Stationen. Das würde sie überstehen. Das musste sie überstehen. Ein großer Dunkelhäutiger setzte sich neben sie. Sie spürte, wie sich ihre Kehle zusammenzog. Sie bekam keine Luft mehr. Das durfte doch nicht wahr sein! Sie würde hier ersticken.
    »Alles in Ordnung?«
    Der Farbige starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an. Er meinte es freundlich.
    Sie nickte. Alles in Ordnung. Bestens. Sprechen war nicht möglich.
    Ihr Blick verengte sich. In der Mitte war noch alles scharf, aber an den Rändern verschwammen die Konturen. Tunnelblick. Sauerstoffmangel. Die Frauen auf der Bank gegenüber hatten mitbekommen, dass etwas mit ihr nicht stimmte. Guckten sie an, mitleidig die alte, sensationslüstern die junge. Warum quietschte die U-Bahn wie eine ausgeleierte Luftpumpe? Nein, das war nicht die Bahn, das war sie selbst. Sie hyperventilierte. Kein Sauerstoffmangel, sondern zu viel Sauerstoff. Himmel noch mal, was für ein Schauspiel. Peinlich, entsetzlich peinlich! Junge, relativ gut aussehende Wissenschaftlerin hyperventiliert in U-Bahn. Komischerweise konnte sie nicht aufhören daran zu denken, wie sie auf andere wirkte. Nie. Noch im Sterben würde sie sich Gedanken über ihr Aussehen machen. Dabei waren alle Leichen hässlich.
    Sie presste ihre linke Hand vor den Mund und tastete mit der rechten in ihrer Handtasche.
    »Kann ich Ihnen helfen?« Der Farbige.
    Sie schüttelte den Kopf. Wo war das verdammte Taschentuch? Da: Taschentuch vor den Mund und flach atmen. Sie musste raus. Raus, raus, raus. Sofort. Die U-Bahn wurde langsamer. Gott sei Dank. Aufstehen. Irgendwie. Sie schaffte es. Sie stand.
    »Ihre Tasche!«
    Was? Der Farbige hielt ihre Tasche hoch. Sie nahm die Tasche und zwängte sich durch die Menschen, stieß jemanden zur Seite, trat einem anderen auf den Fuß. Nur raus. Auf dem Bahnsteig noch mehr Menschen. Sie stieß durch die Menge, rannte jetzt, immer noch das Taschentuch vor dem Mund. Die Treppe hinauf. Sterne blitzten auf, rot, gelb, grün. Kometen rasten durch ihr Blickfeld. Endlich Licht. Tageslicht. Luft zum Atmen.
    Sie taumelte ein wenig und lehnte sich gegen einen Laternenmast. Wartete darauf, dass sich ihr Atem beruhigte.
    »Geht es Ihnen nicht gut, Fräulein?«
    Noch jemand, der ihr helfen wollte. Ein alter Mann, weißes Hemd und Krawatte, schmaler, schwarz gefärbter Schnurrbart. Alte Schule.
    »Danke.« Ihre Stimme klang belegt.
    »Soll ich Ihnen etwas holen? Einen Kaffee vielleicht?«
    »Nicht nötig. Mir war nur ein bisschen schlecht.«
    Der alte Mann ging weiter. Wo war sie hier eigentlich? Sie schaute sich um. Zu Fuß würde sie eine gute Viertelstunde bis zum Institut brauchen. Allemal besser als ein neues Experiment mit dem öffentlichen Nahverkehr.
    Mit jedem Schritt fühlte sie sich besser. Die Panikattacke war überwunden. Man musste das positiv sehen. Schlimmer konnte es heute kaum
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