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Fürchte dich nicht!

Fürchte dich nicht!

Titel: Fürchte dich nicht!
Autoren: Grafit
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nehmen. Schon vor dem Einstieg hatte sie weiche Beine bekommen. Aber ihr Stolz hielt sie davon ab, einfach wieder umzukehren. Blöde, saublöde. Der Zug war voll. Natürlich. Was hatte sie erwartet? Um acht Uhr morgens? Zum Glück hatte sie einen Fensterplatz ergattert. Wenigstens eine Seite frei. Nur das kühle, glatte Glas. Sie lehnte sich so weit wie möglich zum Fenster. Stehend, eingezwängt zwischen anderen, hätte sie die Fahrt nicht überstanden. Höchstens eine Station. Neben ihr saß ein älterer Mann, nach abgestandenem Schweiß stinkend. Warum duschten die Menschen morgens nicht? Was gab es an dieser zivilisatorischen Errungenschaft auszusetzen? Sie duschte jeden Morgen, manchmal auch abends, um den Dreck des Tages abzuwaschen. Die Nützlichkeit von Deorollern war ebenfalls nicht zu verachten. Es boten sich eine Menge Möglichkeiten, die olfaktorische Belästigung seiner Mitmenschen zu vermeiden. Aber davon hatte der Typ neben ihr anscheinend keine Ahnung. Schob seinen breiten Arsch immer näher an sie heran. Den von langen Jahren sitzender Tätigkeit breit gewordenen Arsch. Herrgott noch mal, das war ihr Sitz! Was bildete der Kerl sich ein? Jetzt faltete er auch noch seine Zeitung auseinander, hielt ihr das Blatt direkt vor die Nase. Immerhin, es roch nach Papier und Druckerschwärze. Angenehm, im Vergleich zu seinen Körperausdünstungen.
    Ihr Herz raste. Der verdammte Muskel strengte sich an, als würde sie einen Achttausender ohne Sauerstoffmaske erklimmen. Dabei hockte sie regungslos auf ihrem Sitz. Zugegeben, tief unter der Erde. Über ihr viele Meter Stein, Lehm, Beton. In einer Metallbüchse, die vollgestopft war mit Pendlern. Wieso konnten die anderen das ertragen? Warum gab es kein Grundrecht auf mindestens einen Meter Abstand zum nächsten Menschen? Die Kopfschmerzen wurden stärker, bohrten sich von den Schläfen aus in die Hirnlappen. Saure Übelkeit stieg vom Magen auf. Ablenken, nicht an den eigenen Körper denken. Sei brav, Viola, beschäftige dich! Was war mit den Frauen auf der Bank gegenüber? Die ältere mit der billigen blonden Perücke zählte die Monate bis zur Rente. Verhärmter, schmaler Mund, das Gesicht zerklüftet wie ein Alpenpanorama. Saß vermutlich im Supermarkt an der Kasse. Oder stand sich in einem Kaufhaus die Beine krumm. Gelenkschäden in den Knien und Wasser in den Füßen. Und das für ein paar Hundert Euro monatlich.
    Ihr Magen rebellierte. Sie stieß auf, ein Schwall Magensäure schwappte in ihren Mund. Nur jetzt nicht kotzen. Kein brauner Strahl auf den Boden, keine Spritzer auf Hosenbeine und Schuhe, keine angeekelten Blicke. Das wäre der GAU. Dann lieber ohnmächtig werden, einfach umkippen, rausgetragen werden an die frische Luft, abgelegt auf den herrlich harten Steinplatten des Gehsteigs. Lassen Sie mich hier liegen. Ich komme schon zurecht. Es sieht schlimmer aus, als es ist. Nur eine kleine Panikattacke. Passiert mir häufiger. Rein psychisch, verstehen Sie?
    Woran hatte sie zuletzt noch gedacht? Richtig, an die Frauen gegenüber. Die junge wirkte ein wenig anämisch. Schwarz gefärbte Haare, weiße, fast durchscheinende Haut, unter der ein paar blaue Äderchen zu sehen waren. Ringe in der Nase, in der Unterlippe, in den Augenbrauen und wahrscheinlich auch im Schambereich. Die schlabberigen Klamotten ein paar Nummern zu groß. Mager, vielleicht magersüchtig. Das würde die Anämie erklären. Hätte sie heute Morgen etwas gegessen, würde sie vermutlich gleich mitkotzen.

    Nein, das wollte sie jetzt nicht denken. Gestern Abend. Gestern Abend hatte sie sich stark gefühlt. So stark wie schon lange nicht mehr. Sie hatte sogar ihre Wohnung verlassen und war einmal um den Block gegangen. Vorbei an den Gestalten, die die Berliner Nacht in der Nähe des Ku’damms bevölkerten: Junkies, japanische Touristen, verwirrte alte Damen, türkische Jugendliche, Frauen mit großflächigem Make-up in osteuropäischen Farben, alternde Tunten und betrunkene Russen. Die Männer, soweit heterosexuell, über zwanzig und in der Lage, den Blick zu fokussieren, hatten sie taxiert, die Größe ihres Busens, die Grifffestigkeit ihres Hinterns, hatten darüber nachgedacht, wie sie wohl im Bett sein würde. Und ihr hatte das nichts ausgemacht, fast nichts. Sie war unantastbar gewesen. Wie ein schwarzer Engel, der unter Sterblichen wandelt. Kurz hatte sie überlegt, ob sie in eine Kneipe gehen und ein Bier bestellen sollte. Aber das wäre dann doch zu wahnwitzig gewesen.
    Als sie
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