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Frühe Erzählungen 1893-1912

Frühe Erzählungen 1893-1912

Titel: Frühe Erzählungen 1893-1912
Autoren: Thomas Mann
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einmal nachts erwachte, stellte er sich vor, wie sie nun wohl daläge, das liebe Haupt in den weißen Kissen, den süßen Mund ein wenig geöffnet, und die Hände, diese unbeschreiblichen Hände mit dem zartblauen Geäder auf der Decke gefaltet. Dann warf er sich plötzlich herum, drückte das Gesicht ins Kopfkissen und weinte lange in der Dunkelheit.
    Damit war der Höhepunkt erreicht. Er war nun so weit, daß er keine Gedichte mehr machen und nicht mehr essen konnte. Er mied seine Bekannten, ging kaum noch aus und hatte tiefe, dunkle Ränder unter den Augen. Dabei arbeitete er gar nicht mehr und mochte auch nichts lesen. Er wollte nur immer so vor ihrem Bilde, das er sich längst gekauft, müde weiterdämmern, in Thränen und Liebe. – –
    Eines Abends saß er mit seinem Freunde Rölling, mit dem er {20} schon früher auf der Schule vertraut gewesen war, und der Mediziner war wie er, aber schon in höheren Semestern, bei einem beschaulichen Glase Bier in irgend einem Kneipenwinkel.
    Da stellte Rölling plötzlich resolut seinen Maßkrug auf den Tisch.
    »
So
, Kleiner; nun sag’ mal, was Dir eigentlich ist.«
    »Mir?«
    Aber dann gab er es doch auf und sprach sich aus, über sie und sich. –
    Rölling wackelte mißlich mit dem Kopfe.
    »Schlimm, Kleiner. Nichts zu machen. Bist nicht der erste. Völlig unnahbar. Lebte bislang bei ihrer Mutter. Die ist zwar seit einiger Zeit tot, aber trotzdem – durch
aus
nichts zu machen.
Gräß
lich anständiges Mädel.«
    »Ja glaubtest Du denn, ich …«
    »Na, ich glaubte, Du hofftest …«
    »Ach Rölling! …«
    »… Ah – a
so
. Pardon, nun komm’ ich erst ins Klare.
So
sentimentalisch hatte ich mir das ja gar nicht gedacht. – Also dann schick’ ihr ein Bouquet, schreib’ ihr dazu keusch und ehrfurchtsvoll, flehe um schriftliche Erlaubnis ihrerseits, ihr Deine Aufwartung machen zu dürfen, zum mündlichen Ausdruck Deiner Bewunderung.«
    Er wurde ganz blaß und zitterte am ganzen Leibe.
    »Aber … aber das geht ja nicht!«
    »Warum nicht? Jeder Dienstmann geht für vierzig Pfennig.«
    Er zitterte noch mehr.
    »Herrgott, – wenn das möglich wäre!«
    »Wo wohnt sie noch gleich?«
    »Ich – weiß nicht.«
    »
Das
weißt Du noch nicht mal?! Kellner. Das Adreßbuch.«
    {21} Rölling hatte es schnell gefunden.
    »Gelt? Solange lebte sie in einer höheren Welt, nun wohnt sie auf einmal Heustraße 6a, dritte Etage; siehst Du, hier steht’s: Irma Weltner, Mitglied des Goethe-Theaters … Du, das ist übrigens eine scheußlich billige Gegend. So wird die Tugend belohnt.«
    »Bitte, Rölling …!«
    »Na ja, schon gut. Also das machst Du. Vielleicht darfst Du ihr mal die Hand küssen, – Gemütsmensch! Die drei Meter für den Parkettplatz wendest Du diesmal an das Bouquet. –«
    »Ach Gott, was kümmert mich das lumpige Geld!«
    »Es ist doch schön, von Sinnen zu sein!« deklamierte Rölling. – –
    Am folgenden Vormittag schon ging ein rührend naiver Brief nebst einem wunderschönen Bouquet nach der Heustraße ab. – Wenn er eine Antwort von ihr erhielte, – irgend eine Antwort! Wie wollte er aufjubelnd die Zeilen küssen! – – –
    Nach acht Tagen war die Klappe des Briefkastens an der Hausthür abgebrochen von dem vielen Öffnen und Schließen. Die Wirtin schimpfte.
    Die Ränder unter seinen Augen waren noch tiefer geworden; er sah wirklich recht elend aus. Wenn er sich im Spiegel sah, erschrak er ordentlich; und dann weinte er vor Selbstmitleid.
    »Du, Kleiner«, sagte Rölling eines Tages sehr entschieden, »das geht nicht so
weiter
. Du gerätst ja immer mehr in Dekadenz. Da muß etwas
geschehn
. Morgen gehst Du einfach zu ihr.«
    Er machte seine kränkelnden Augen ganz groß.
    »Einfach … zu ihr …«
    »Ja.«
    »Ach das geht ja nicht; sie hat es mir ja nicht erlaubt.«
    »Das war ja überhaupt
dumm
mit dem Geschreibsel. Das hätten wir uns auch
gleich
denken können, daß sie Dir nicht un {22} bekannterweise gleich schriftliche Avancen machen würde. Du mußt
ein-fach
zu ihr gehn. Du bist ja doch schon glückstrunken, wenn sie einmal Guten Tag zu Dir gesagt hat. Ein Scheusal bist Du ja auch nicht gerade. Sie wird Dich schon nicht ohne weiteres hinauswerfen. – Morgen gehst Du.«
    Ihm war ganz schwindlich.
    »Ich werde nicht können«, sagte er leise.
    »Dann ist Dir nicht zu
helfen
!« Rölling wurde ärgerlich. »Dann mußt Du halt sehen, wie Du’s allein überwindest!« – – –
    Nun kamen, wie draußen mit dem
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