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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Autoren: Andrew Miller
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aufsuchen.«
    »Ja, Exzellenz.«
    »Und Sie werden so lange wie irgend möglich für sich behalten, was es mit Ihrem Auftrag auf sich hat. Die Neigungen des Volkes sind unvorhersehbar. Vielleicht halten sie ja sogar einen Ort wie Les Innocents lieb und wert.«
    »Exzellenz, wann soll ich mit dieser Arbeit beginnen?«
    Doch der Minister ist plötzlich taub. Der Minister hat das Interesse an ihm verloren. Er blättert Papiere um und greift nach seinem kleinen Glas, das ihm der Diener, der um den Schreibtisch herumtritt, in die ausgestreckten Finger bugsiert.
    Lafosse erhebt sich von seinem Hocker. Aus den Tiefen seines Rocks zieht er einen gefalteten und versiegelten Bogen Papier, dann einen Beutel. Beides gibt er Jean-Baptiste. Dieser verbeugt sich vor ihm und, etwas tiefer, vor dem Minister, tritt rückwärts in Richtung Tür, dreht sich um und geht hinaus. Der Mann, der mit ihm gewartet hat, ist verschwunden. Ist er auch Ingenieur? Jener Jean-Marie Lestingois, von dem der Minister gesprochen hat? Und wenn der gelbäugige Diener ihn zuerst angesehen hätte, wäre dann er derjenige, der mit der Zerstörung eines Friedhofs beauftragt worden wäre?
    Er nimmt seinen Reitmantel von dem Stuhl, auf dem er ihn abgelegt hat. Das Rinnsal des Hundeurins sickert langsam in das Holz des Bodens ein.

3
     
    EIN, ZWEI FLURE , einen Flügel weit ist er sich sicher, dass er denselben Weg zurückgeht. Er kommt an Fenstern vorbei, die so groß sind, dass man auf einem Pferd, vielleicht sogar auf einem Elefanten hindurchreiten könnte. Er steigt geschwungene Treppen hinunter, vorbei an gewaltigen allegorischen Tapisserien, die in der herbstlichen Zugluft zittern und die Augen unzähliger Frauen ruiniert haben müssen, denn jedes Detail ist bis ins kleinste mit perfektem Stich ausgeführt, die Blumen am Fuße des Parnass, französische Wiesenblumen – Mohnblumen, Kornblumen, Rittersporn, Kamille …
    Der Palast gleicht einem Spiel, aber Jean-Baptiste wird es allmählich leid. In einigen Fluren ist es dunkel wie am Abend; andere werden von tropfenden Kerzen erhellt. In diesen trifft er auf sich drängelnde Gruppen von Dienern, doch wenn er nach dem Weg fragt, ignorieren sie ihn oder zeigen in vier verschiedene Richtungen. Einer ruft ihm nach: »Folgen Sie Ihrer Nase!«, doch seine Nase sagt ihm nur, dass die Ausscheidungen der Mächtigen sich nicht groß von denen der Armen unterscheiden.
    Und überall, auf jedem Flur, gibt es Türen. Soll er durch eine hindurchgehen? Entkommt man so dem Schloss von Versailles? Doch Türen sind an einem solchen Ort ebenso den Regeln der Etikette unterworfen wie alles andere. An manche klopft man; an anderen darf man nur mit dem Fingernagel kratzen. Cousin André hat ihm das auf dem Ritt nach Nogent erklärt, Cousin André der Advokat, der, obwohl drei Jahre jünger, bereits eine durchtriebene Weltklugkeit, ein beneidenswert umfassendes Wissen besitzt.
    Er bleibt vor einer Tür stehen, die ihm irgendwie vielversprechender erscheint als ihre Nachbarn. Und spürt er nicht einen kühlen Luftzug darunter hervorströmen? Er sucht nach Kratzspuren im Holz, sieht keine und klopft leise. Niemand reagiert. Er drückt die Klinke und geht hinein. Drinnen sitzen zwei Männer an einem kleinen, runden Tisch und spielen Karten. Sie haben große, blaue Augen und tragen silberne Röcke. Sie erzählen ihm, sie seien Polen, hielten sich schon seit Monaten im Schloss auf und wüssten kaum mehr, weshalb sie überhaupt hergekommen seien. »Kennen Sie Madame de M-?« fragt der eine.
    »Leider nicht.«
    Sie seufzen; jeder dreht eine Karte um. Hinten im Zimmer erproben zwei Katzen ihre Krallen am seidenen Bezug eines Diwans. Jean-Baptiste will sich mit einer Verbeugung zurückziehen. Ob er denn nicht noch ein Weilchen bleiben und mitspielen möchte? Pikett vertreibe einem die Zeit so gut wie sonst etwas. Er sagt ihnen, dass er hinauszufinden versucht.
    Hinaus? Sie sehen ihn an und lachen.
    Wieder auf dem Flur, bleibt er stehen und sieht zu, wie eine Frau mit aufgetürmtem lila Haar waagerecht durch eine Türöffnung getragen wird. Ihr Kopf dreht sich; ihre schwarzen Augen mustern ihn. Sie ist nicht die Sorte Mensch, die man nach dem Weg fragt. Auf der schmalen Steinspirale einer Dienstbotentreppe steigt er in das Stockwerk darunter. Hier lungern Soldaten auf Bänken, während Jungen in blauer Livree zusammengerollt auf Tischen, unter Tischen, auf Fenstersitzen dösen, überall, wo Platz für sie ist. Auf ihn zugelaufen kommt ein
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