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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Autoren: Andrew Miller
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hinunterstiegen, fielen in Ohnmacht. Und es gab moralische Beeinträchtigungen, besonders bei jungen Menschen. Jungen Männern und Frauen von bislang tadelloser Lebensführung …
    Eine Kommission wurde eingesetzt, die der Sache nachgehen sollte. Sehr viele sachverständige Herren schrieben sehr viele Worte zu dem Thema. Empfehlungen wurden ausgesprochen und Pläne für neue, hygienische Friedhöfe gezeichnet, die wieder außerhalb der Stadtgrenzen liegen würden. Aber die Empfehlungen wurden ignoriert und die Pläne zusammengerollt und weggeräumt. Die Toten trafen weiterhin am Tor des Friedhofs ein. Irgendwie fand man Platz für sie. Und so wäre es immer weitergegangen, Baratte. Daran besteht kein Zweifel. Weitergegangen bis zum Jüngsten Gericht, hätte es nicht vor nunmehr fünf Jahren ein Frühjahr mit ungewöhnlich heftigen Regenfällen gegeben. Eine unterirdische Mauer, die den Friedhof vom Keller eines Hauses in einer der anliegenden Straßen trennte, brach zusammen. In den Keller stürzte der Inhalt eines gewöhnlichen Armengrabs. Sie können sich vielleicht vorstellen, welche Unruhe diejenigen empfanden, die über dem Keller wohnten, ihre Nachbarn, deren Nachbarn, überhaupt alle, die sich, wenn sie nachts zu Bett gingen, wohl mit dem Gedanken niederlegten, dass der Friedhof wie die gefräßige See gegen die Mauer ihrer Häuser drückte. Er konnte seine Toten nicht mehr bei sich behalten. Man konnte seinen Vater dort begraben und schon nach einem Monat nicht mehr wissen, wo er war. Der König selbst war beunruhigt. Es wurde befohlen, Les Innocents zu schließen. Friedhof und Kirche. Unverzüglich zu schließen, das Tor zu versperren. Und so ist es trotz der Bittgesuche Seiner Gnaden des Bischofs seither geblieben. Geschlossen, leer, still. Was meinen Sie dazu?«
    »Wozu, Exzellenz?«
    »Kann man einen solchen Ort einfach sich selbst überlassen?«
    »Das ist schwer zu sagen, Exzellenz. Wahrscheinlich nicht.«
    »Er stinkt.«
    »Ja, Exzellenz.«
    »An manchen Tagen bilde ich mir ein, ich kann ihn von hier aus riechen.«
    »Ja, Exzellenz.«
    »Er vergiftet die Stadt. Überlässt man ihn lange genug sich selbst, vergiftet er vielleicht nicht nur die dortigen Ladeninhaber, sondern den König selbst. Den König und seine Minister.«
    »Ja, Exzellenz.«
    »Er muss entfernt werden.«
    »Entfernt?«
    »Zerstört. Kirche und Friedhof. Der Ort soll wieder lieblich werden. Verwenden Sie Feuer, verwenden Sie Schwefel. Verwenden Sie, was auch immer Sie brauchen, um ihn loszuwerden.«
    »Und die … die Bewohner, Exzellenz?«
    »Welche Bewohner?«
    »Die Toten?«
    »Sind zu beseitigen. Bis auf das letzte Knöchelbein. Das Ganze erfordert einen Mann, der sich vor einer kleinen Unannehmlichkeit nicht fürchtet. Jemanden, der sich vom Gebelfer der Priester nicht einschüchtern lässt. Nicht zu abergläubischen Vorstellungen neigt.«
    »Abergläubischen Vorstellungen, Exzellenz?«
    »Sie glauben doch nicht etwa, ein Ort wie der Friedhof der Unschuldigen verfügte nicht über seine eigenen Legenden? Es wird sogar behauptet, in den Grabgewölben gehe ein Geschöpf um, etwas, was in jenen Tagen – oder wohl eher Nächten – gezeugt worden sei, als im Winter noch Wölfe in die Stadt kamen. Würden Sie sich vor einem solchen Geschöpf fürchten, Baratte?«
    »Nur, wenn ich daran glaubte, Exzellenz.«
    »Sie sind fraglos ein Skeptiker. Ein Schüler Voltaires. Wie ich höre, spricht er besonders junge Männer Ihres Standes an.«
    »Ich bin … Ich habe natürlich gehört …«
    »Ja, natürlich. Und er wird auch hier gelesen. Von mehr Leuten, als Sie vielleicht vermuten. Was Klugheit angeht, sind wir vollkommen demokratisch. Und ein Mann, der soviel Geld besessen hat wie Voltaire, kann kein ganz schlechter Mensch gewesen sein.«
    »Ja, Exzellenz.«
    »Sie schrecken also nicht vor Schatten zusammen?«
    »Nein, Exzellenz.«
    »Die Arbeit wird zugleich heikel und grob sein. Sie werden über die Autorität dieses Amtes verfügen. Sie werden Geld haben. Sie werden mir über meinen Bevollmächtigten, Monsieur Lafosse, Bericht erstatten.« Der Minister blickt über Jean-Baptistes Schulter hinweg. Dieser dreht sich um. Auf einem Hocker hinter der Tür sitzt ein Mann. Es bleibt nur Zeit, die langen weißen Finger, die langen, schwarzgekleideten Gliedmaßen wahrzunehmen. Und natürlich die Augen. Zwei in einen Schädel gehämmerte schwarze Nägel.
    »Sie werden Lafosse alles sagen. Er hat Büros in Paris. Er wird Sie bei Ihrer Arbeit
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