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Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)

Titel: Friedhof der Unschuldigen: Roman (German Edition)
Autoren: Andrew Miller
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verlängert würde, zu einer Schneide zu, wie der Kopf einer Axt. »Der Comte de S- schreibt, Sie seien fleißig, sorgfältig und reinlich. Und außerdem, dass Ihre Mutter Protestantin sei.«
    »Nur meine Mutter, Exzellenz. Mein Vater –«
    Der Minister bringt ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Wie Ihre Eltern ihre Gebete sprechen, ist unerheblich. Sie werden nicht für den Posten des königlichen Kaplans ins Auge gefasst.« Er schaut erneut auf das Blatt. »Zur Schule gegangen bei den Brüdern der Oratorianischen Kongregation in Nogent, worauf Sie dank der Großzügigkeit des Grafen in die Ecole Royale des Ponts et Chaussées eintreten durften.«
    »Später dann, Exzellenz, ja. Ich hatte die Ehre, dort von Maître Perronet unterrichtet zu werden.«
    »Von wem?«
    »Von dem großen Perronet, Exzellenz.«
    »Sie verstehen sich auf Geometrie und Algebra. Hydraulik. Hier heißt es, Sie hätten eine Brücke gebaut.«
    »Eine kleine Brücke, Exzellenz, auf dem Gut des Grafen.«
    »Staffage?«
    »Es war … In gewisser Hinsicht, Exzellenz.«
    »Und Sie besitzen Erfahrungen im Bergbau?«
    »Ich war fast zwei Jahre lang in den Bergwerken bei Valenciennes. Der Graf hat Anteile an den Bergwerken.«
    »Er hat Anteile an vielem, Baratte. Man behängt seine Frau nicht mit Diamanten, ohne Anteile zu haben.« Der Minister hat vielleicht einen Scherz gemacht, und vielleicht sollte man etwas Witziges, wenn auch Respektvolles, erwidern, aber Jean-Baptiste denkt weder an die Frau des Grafen und ihren Schmuck noch an seine Mätresse und deren Schmuck, sondern an die Bergarbeiter von Valenciennes. An ihre besondere Art von Armut, der unter diesen Sargtüchern von Qualm keine Gnade der Natur Linderung schafft.
    »An Ihnen nimmt er auch Anteil, nicht wahr?«
    »Ja, Exzellenz.«
    »Ihr Vater hat Handschuhe für den Grafen gemacht?«
    »Ja, Exzellenz.«
    »Vielleicht lasse ich mir auch welche von ihm machen.«
    »Mein Vater ist tot, Exzellenz.«
    »Ach ja?«
    »Schon seit einigen Jahren.«
    »Woran ist er gestorben?«
    »An einer Krankheit, Exzellenz. Einer schleichenden Krankheit.«
    »Dann wollen Sie zweifellos sein Andenken ehren.«
    »Gewiss, Exzellenz.«
    »Sie sind bereit zu dienen?«
    »Ja.«
    »Ich habe etwas für Sie, Baratte. Ein Unternehmen, das, mit dem notwendigen Gespür, der notwendigen Diskretion durchgeführt, dafür sorgen wird, dass Ihr Fortkommen nicht ins Stocken kommt. Es wird Ihnen einen Namen verschaffen.«
    »Ich bin dankbar für das mir von Eurer Exzellenz entgegengebrachte Vertrauen.«
    »Wir wollen noch nicht von Vertrauen sprechen. Sie kennen den Friedhof der Unschuldigen?«
    »Einen Friedhof?«
    »Beim großen Markt von Les Halles.«
    »Ich habe davon gehört, Exzellenz.«
    »Er nimmt die Leichen von Paris schon länger auf, als irgendein Mensch zurückdenken kann. Schon seit alter Zeit, als die Stadt noch kaum über die Inseln hinausreichte. Damals muss er durchaus erträglich gewesen sein. Ein Flecken Erde mit nichts oder nur wenig drumherum. Aber die Stadt wurde größer. Die Stadt umfing ihn. Man baute eine Kirche. Baute Mauern um den Friedhof. Und um die Mauern herum Häuser, Läden, Tavernen. Das Leben in seiner Gesamtheit. Der Friedhof wurde berühmt, gefeiert, ein Pilgerort. Mutter Kirche verdiente ein Vermögen mit Beerdigungsgebühren. Soundsoviel für den Einlass in die Kirche. Etwas weniger für die Galerien draußen. Die Armengräber waren natürlich gratis. Man kann von einem Menschen kein Geld dafür verlangen, dass seine Überreste auf die anderer Leute gelegt werden wie eine Scheibe Schinken.
    Wie ich höre, wurden auf dem Friedhof während eines einzigen Ausbruchs der Seuche in weniger als einem Monat fünfzigtausend Leichen begraben. Und so ging es weiter, Leiche auf Leiche, dass die Totenkarren in der Rue Saint-Denis schon Schlange standen. Es gab sogar nachts Beerdigungen, bei Fackelschein. Leiche auf Leiche. Eine Zahl, die sich jeder Berechnung entzieht. Unermessliche Legionen, in einen Flecken Erde gezwängt, der nicht größer ist als ein Kartoffelacker. Und doch schien niemand sich daran zu stören. Es gab keine Proteste, keine Bekundungen von Abscheu. Vielleicht erschien es ja sogar normal. Doch seit etwa einer Generation bekommen wir Beschwerden. Einige der Anwohner empfanden die Nähe des Friedhofs allmählich als unerquicklich. Nahrungsmittel wollten sich nicht halten. Kerzen erloschen, wie von unsichtbaren Fingern ausgedrückt. Menschen, die morgens ihre Treppe
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