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Fremdes Licht

Fremdes Licht

Titel: Fremdes Licht
Autoren: Nancy Kress
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und… was? Ihn in
den Fluß werfen können, bevor die Kriegerin ihn
aufschnüren konnte? Hilflos sah sie zu, wie Jehanna nach der
Waffe suchte, die es nicht gab, und sah zu, wie Jehannas Hand einen
Gegenstand ans Mondlicht zog. Die Jelitin rang nach Luft.
    Es war eine Glasskulptur, eine Doppelhelix, halb blau, halb rot,
die beiden Spiralen verband eine gewundene Leiter, deren Sprossen
verschiedene Abstände hatten, aber ein gewisses Muster
verrieten; die Färbung der Sprossen verlief von Blau über
Indigo, Purpur und Magenta nach Rot. Das schwere Glas schien den
Mondschein aufzusaugen. In dem wässrigen Licht glänzte die
Helix in ausgewogener Präzision, die Windungen ausbalanciert
durch gerade Linien, die Verlockung für die bergende Hand
ausbalanciert durch eine geheimnisvolle Wirkung auf den Verstand, der
ein Muster ahnte, es aber nicht begriff. Das Glas war makellos, doch
ein paar wechselnde Zeichnungen oder Reflexe innerhalb der beiden
Spiralen erweckten den Anschein, als seien sie nicht bloß aus
Glas, als würden sie sich aus eigenem Antrieb winden und als sei
der Atem, der sie geblasen hatte, nicht der des Glasbläsers,
sondern der ihre.
    Jehanna starrte wie betäubt über das Feuer hinweg auf
Ayrid. »Du hast es gewagt, das zu machen… du…«
    Das Stadtgericht hatte ihr die gleiche Frage gestellt, mit der
gleichen Entrüstung. »Ja«, sagte Ayrid.
    »Du – ein Delysier?«
    Ayrid schloß die Augen. »Ja.«
    »Weshalb?«
    »Weil es schön ist.«
    »Schön? Das ist das Standessymbol eines jelitischen
Kriegerpriesters. Hast du das gewußt, als du es gegossen hast?
Hast du das gewußt?«
    »Nicht gegossen. Ich habe es geblasen.«
    »Auch das noch! Du bist also mit deinem Mund…«
    Genauso hatten die Stadtväter geguckt. Dumm, sie waren alle
dumm. Wie konnte man nur so dumm sein?
    Diese Dummheit hatte sie Embri gekostet.
    »Du hast es gewagt…«, sagte Jehanna und stockte,
die Empörung verschlug ihr die Stimme. Die Faust ballte sich um
Ayrids Fleischmesser. Das haßerfüllte Gesicht spiegelte
sich in den gläsernen Rundungen, in die Länge gezogen, zur
Unkenntlichkeit verzerrt.
    »Delysia und Jela führen keinen Krieg. Spielt es da eine
Rolle, welches Symbol ein Handwerker herstellt?«
    »Wir werden wieder Krieg führen. Sowie deine Stadt die
Vereinbarungen bricht!«
    Das stimmte wahrscheinlich. Es hatte immer gestimmt. Das
fruchtbare Land entlang der Küste, in das sich die beiden
Städte teilten, reichte nur knapp zur Versorgung der beiden, und
für Jela war es leichter, dafür zu sorgen, daß
weniger Mäuler gestopft werden mußten, als Anbau auf der
Hochlandsavanne zu betreiben. Getreide, Früchte, Wild, Fisch,
Holz – J ela steht für Ehre, Delysia für
Hinterlist…
    »Ich habe diese Helix gemacht«, sagte Ayrid
bedächtig, »weil sie so schön ist. Und weil ich
wußte, wie man sie machen muß. Und weil, wenn die
Legende, die eure Priester erzählen, wenn sie wirklich wahr
ist…«
    »Woher weißt du, was unsere Priester
erzählen?«
    »…wenn sie wirklich wahr ist, und beide Städte,
Jela und Delysia, von Menschen erbaut wurden, die im gleichen Boot
von der Insel der Toten geflohen sind, dann haben deine und meine
Tochter dieselbe Ururururgroßmutter. Und weil, selbst wenn das nicht stimmt und wenn unsere Städte bis in alle Ewigkeit
Feinde bleiben – weil keine Stadt eine bloße Form aus Glas
und Luft besitzen kann. Das ist eine Form, Jehanna – sieh nur.
Eine gläserne Gestalt. Nichts, wovor man sich fürchten
müßte, wovor man Respekt haben müßte, wie ihr das tut, bloß eine Gestalt…«
    »Schluß damit!« schrie das Mädchen. Mit aller
Kraft schleuderte sie die Doppelhelix auf den Boden und setzte den
Stiefelabsatz, Metall mit Leder überzogen, wütend auf die
Bruchstücke. Erst splitterte das Glas, dann knirschte es.
Jehanna hörte nicht auf, mit dem Absatz zu stampfen, bis die
Skulptur nur mehr eine Schicht aus Glaspulver auf dem Gestein
war.
    »Ich schlafe in Rufweite«, sagte sie. »Versuche ja
nicht, dich anzuschleichen, Delysier, ich habe einen leichten
Schlaf.« Ohne auch nur einen Blick auf den Boden zu werfen,
wandte sie sich ab und schritt in die Dunkelheit.
    Ayrid sank auf die Knie und berührte das zermahlene Glas mit
dem Finger. Ein paar Körnchen blieben haften. Sie schloß
die Augen und zog den Finger über das Gestein, wobei sie so hart
zudrückte, wie sie nur konnte. Als sie die Augen öffnete,
war eine Blutspur auf dem Gestein, und der Finger war mit
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