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Fremde Wasser

Fremde Wasser

Titel: Fremde Wasser
Autoren: Wolfgang Schorlau
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sich in einigen Monaten sogar in ein Plus verwandeln.
    »Wie würdest du denn vorgehen? Ich meine – nur mal angenommen, du nimmst den Auftrag an?«, fragte Klein.
    »Die klassische Methode – Motiv, Tatwaffe, Tatort. An diesen drei Tatmerkmalen würde ich ansetzen, aber das ist in diesem
     Fall besonders schwierig.«
    »Warum?«
    »Es gibt keine Tatwaffe, keine erkennbare zumindest. Die Frau geht zum Rednerpult und will eine Rede halten. Dannerleidet sie eine Herzattacke und stirbt. Wenn man den Medien glauben darf: an Erschöpfung oder Überlastung. Also keine Tatwaffe,
     die mich zu einem Täter führen könnte. Keine sichtbare, jedenfalls. Auch die Leiche hilft mir nicht weiter.«
    Er sah das fragende Gesicht Kleins.
    »Sie ist schon beerdigt. Und den Tatort? Den dürfte ich nicht einmal betreten.«
    »Warum nicht?«
    »Den Plenarsaal des Bundestages dürfen nur Abgeordnete oder Saaldiener betreten, nicht einmal Angestellte des Bundestages
     dürfen hinein.«
    »Woher weißt du das alles?«, fragte Olga.
    »Wahrscheinlich hat er in Gemeinschaftskunde aufgepasst«, sagte Klein.
    »Falsch«, sagte Dengler, »ich hab im Bundestag angerufen und mich erkundigt. Bevor ich einen Auftrag annehme oder ablehne,
     will ich die äußeren Umstände kennen. Mittlerweile dürften jedoch am Tatort, wenn man ihn denn überhaupt so nennen kann, keine
     Spuren mehr zu sehen sein. Das ist alles schon zwei Wochen her.«
    Martin Klein machte sich hastig einige Notizen.
    »Bleibt die Frage nach dem Motiv«, sagte er dann und zog mit dem Kugelschreiber eine Linie unter das bisher Geschriebene.
    »Konnte die Großmutter einen Anhaltspunkt für ein Motiv liefern?«, fragte Olga.
    »Nein. Konnte sie nicht. Ihr einziges Argument ist ein medizinisches: In ihrer Familie hatte noch nie jemand ein schwaches
     Herz. Ich habe ihr gesagt, dass in ihrer Familie wahrscheinlich auch noch niemand den Belastungen eines Abgeordnetenberufs
     ausgesetzt war.«
    »Und?«
    »Was und?«
    »Was hat sie daraufhin gesagt?«
    »Sie habe den Heiligen Antonius gebeten, dass er ihr helfe. Ich solle in seinem Namen der Sache nachgehen.«
    »Den Heiligen Antonius?«
    Martin Klein blickte perplex von seinen Aufzeichnungen auf.
    »Ja, sie sprach vom Heiligen Antonius und dass sie zuvor eigens an einer Kirche vorbeigefahren sei, Geld gespendet und ihn
     um Unterstützung gebeten habe: Er solle den Privatermittler dazu bringen, den Tod ihrer Enkelin aufzuklären.«
    »Sie lieferte also kein überzeugendes Mordmotiv?«
    »Nein.«
    »Ich möchte diese Frau kennenlernen«, sagte Olga plötzlich.
    Dengler und Klein sahen sie erstaunt an.
    Olga wandte den Blick zu Boden, so als schämte sie sich, und Dengler schien es, als errötete sie.
    Dann sagte sie leise: »Der Heilige Antonius hat bei mir noch etwas gut – ich bin ihm noch etwas schuldig.«
    Sie blickte auf und sah in die fragenden Gesichter der beiden Männer.
    »In der schwierigsten Phase meines Lebens hat mich der Heilige Antonius begleitet und letztlich auch gerettet. Ohne ihn wäre
     ich tot. Ich möchte diese Frau kennenlernen, bitte!«
    Sie sah Dengler offen und ernst an.
    »Sicher. Ich rufe sie an«, sagte er.
    Dann trank er seinen Espresso aus.
    »Ich muss noch arbeiten«, sagte er und ging.
    Auf dem Weg zur Treppe stellte er fest, dass seine schlechte Laune verflogen war.

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    Stefan C. Crommschröder
    Stefan C. Crommschröder wird am 18. März 1960 in Stuttgart geboren, nur anderthalb Jahre nach seiner Schwester Karin. In dieser
     Stadt ist es für das weitere Fortkommen von Vorteil, an einem der Hänge zur Welt gekommen zu sein, und zumindest in dieser
     Hinsicht hat er Glück. Das Haus seiner Eltern steht in der Nähe des Bismarckturms, oben am Killesberg, in jener eleganten
     und mit einem Anflug von falscher Bescheidenheit als »Halbhöhe« benannten Wohngegend, dem Dach der Stadt, wie ein Liedermacher
     diese Gegend einmal genannt hat.
    Die Ehe seiner Eltern ist, aus seiner heutigen Sicht, kaum mehr als die Vereinigung sechs großer Mietshäuser unten im Stuttgarter
     Kessel, deren Mieter bereits zum Zeitpunkt von Crommschröders Geburt dafür gesorgt hatten, dass die Familie ein beachtliches
     Vermögen auf der Bank hat. Zweimal im Jahr zieht seine Mutter den immer gleichen alten braunen Rock und eine unförmige Joppe
     aus derbem Stoff an, dazu bindet sie ein Kopftuch um. Dann inspiziert sie den familiären Immobilienbesitz im Westen. Das sind
     die einzigen Anlässe, bei denen sie nicht
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