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Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Titel: Frankenstein oder Der moderne Prometheus
Autoren: Mary Shelley
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Wrack so anziehend und liebenswert ist.
    Ich habe schon einmal in einem meiner Briefe gesagt, liebe
Margarete, daß es mir wohl nicht vergönnt sein werde, auf dem
weiten Ozean einen Freund zu finden. Aber ich habe wenigstens einen
Mann kennen gelernt, der mir wirklich, wäre sein Geist nicht so
tief verstört, ein Herzensfreund hätte werden können.
    Ich werde Dir von Zeit zu Zeit von dem Fremden berichten,
vorausgesetzt, daß es etwas zu berichten gibt.

13. August
18..
    Meine Zuneigung zu dem unglücklichen Gaste wächst von Tag zu
Tag. Ich bewundere und bemitleide ihn zugleich. Wie wäre es
möglich, ein so edles Geschöpf von Gram verzehrt zu sehen, ohne
selbst den tiefsten Schmerz mitzuempfinden? Er ist so gut und dabei
klug, auch ist er außerordentlich gebildet und spricht wohlgesetzt
und gewandt.
    Er hat sich jetzt von seiner Krankheit ziemlich erholt und hält
sich unausgesetzt auf Deck auf, offenbar um den Schlitten nicht zu
übersehen, auf den er immer noch wartet. Er ist
unglücklich, aber in all seinem Elend hat
er doch immer noch Interesse für die Pläne der andern. Er hat viel
mit mir über den meinigen gesprochen, den ich ihm rückhaltlos
dargelegt habe. Aufmerksam folgte er allem, was ich im Sinne eines
glücklichen Ausganges meines Unternehmens vorzubringen wußte, und
vertiefte sich mit mir bis in die Details der Maßnahmen, die ich
getroffen. Er hatte mir so viel Sympathie eingeflößt, daß ich offen
mit ihm reden mußte. Ich ließ ihn in meine leidenschaftliche Seele
blicken und sagte ihm auch, daß ich gern mein ganzes Vermögen,
meine Existenz, meine Zukunft aufs Spiel setze, um mein Unternehmen
zu einem guten Ausgange zu führen. Leben oder Tod eines Mannes
seien ja gar nichts im Vergleich zu dem, was der Wissenschaft durch
mein Unternehmen genützt werde. Während ich sprach, überzog eine
dunkle Glut das Antlitz meines Zuhörers. Ich bemerkte, daß er
anfänglich sich bemühte, seine Bewegung zu meistern. Er hielt die
Hände vor das Gesicht, und meine Stimme bebte und stockte, als ich
sah, daß Tränen zwischen seinen Fingern niederrannen, als ich
hörte, wie ein wehes Stöhnen sich seiner Brust entrang. Ich hielt
inne, da sagte er mit gebrochener Stimme: »Unglücklicher! Hat Sie
derselbe Wahnsinn erfaßt wie mich? Haben auch Sie von dem Gifte
getrunken? Hören Sie mich an, lassen Sie mich meine Geschichte
berichten und Sie werden den Becher mit dem unheilvollen Trank von
Ihren Lippen wegstoßen.«
    Du kannst Dir denken, daß diese Worte meine ganze Neugier
erregten. Aber das Übermaß des Schmerzes hatte die schwachen Kräfte
des Fremden übermannt und es bedurfte vieler Stunden der Ruhe und
sanfter Überredung, um ihn wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
    Nachdem er seiner heftigen Gefühle Meister geworden war, schämte
er sich, daß seine Leidenschaft ihn so überwältigt hatte. Er
unterdrückte mit Gewalt seine Verzweiflung und veranlaßte mich,
über mich selbst zu sprechen. Er frug nach meiner Kindheit. Diese
war rasch erzählt, aber dennoch gab sie verschiedene
Anknüpfungspunkte. Ich sprach von meinem Wunsche, einen Freund zu finden, von meiner Sehnsucht nach einer
gleichgestimmten Seele, die ich nie mein eigen nennen durfte, und
gab meiner Überzeugung Ausdruck, daß niemand wahres Glück genossen
habe, der sich nicht echter Freundschaft rühmen könne.
    »Ich bin ganz Ihrer Ansicht,« entgegnete der Fremde. »Wir sind
nur halbe Geschöpfe, wenn uns nicht ein Weiserer, Besserer – und
das muß ja ein Freund sein – zur Seite steht, um unsere schwache,
fehlerhafte Natur zu verbessern. Ich hatte einmal einen Freund, den
edelsten Menschen, den man sich denken kann, und habe deshalb ein
gewisses Recht mitzusprechen, wenn von Freundschaft die Rede ist.
Sie sind noch voller Hoffnung und haben die Welt vor sich und
deshalb keinen Grund zu verzweifeln. Aber ich – ich habe alles
verloren und keinen Mut mehr, von vorn anzufangen.«
    Als er das sagte, nahm sein Gesicht einen gramvollen Ausdruck
an, der mir bis ins Herz hinein weh tat. Aber er sprach nicht
weiter und zog sich in seine Kajüte zurück.
    Trotz seines Leides hegt er eine tiefe, innige Liebe zur Natur.
Der sternenbesäte Himmel, das Meer und alle Wunder dieser
herrlichen Regionen schienen erhebend auf seine Seele zu wirken.
Ein solcher Mensch hat eigentlich eine doppelte Existenz: er mag
leiden und sich grämen, aber wenn er sich in sich selbst
zurückzieht, dann ist er wie ein himmlischer Geist, den ein
Heiligenschein
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