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Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Frankenstein oder Der moderne Prometheus

Titel: Frankenstein oder Der moderne Prometheus
Autoren: Mary Shelley
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werde
ich wenigstens darin ein erhabenes Ziel finden, eine Passage nahe
dem Pole zu jenen Ländern zu entdecken, deren Erreichung heute noch
Monate in Anspruch nimmt, oder dem Geheimnis des Magnetismus näher
zu kommen, was ja doch nur durch eine Reise geschehen kann, wie ich
sie unternehmen will.
    Diese Betrachtungen haben die ganze Rührung verfliegen lassen,
die sich meiner bei Beginn dieses Briefes bemächtigt hatte, und ich
glühe vor himmelstürmendem Enthusiasmus. Nichts vermag der Seele so
sehr das Gleichmaß zu verleihen als eine ernste Absicht, ein fester
Punkt, auf den sich das geistige Auge richten kann. Diese
Expedition war schon ein Wunsch meiner frühen Jugendjahre. Ich habe
mit heißem Kopfe die mannigfachen Beschreibungen der Reisen
gelesen, die die Entdeckung einer Passage durch die den Pol
umgebenden Meere nach dem nördlichen Teile des Stillen Ozeans
bezweckten. Du erinnerst Dich vielleicht, daß solche
Reisebeschreibungen den Hauptbestandteil der Bibliothek unseres
guten Onkels Thomas bildeten. Jene Werke waren mein Studium, dem
ich Tage und Nächte widmete, und je mehr ich mich mit ihnen
befreundete, desto tiefer bedauerte ich es, daß mein Vater auf dem
Sterbebett meinem Onkel das Versprechen abgenommen hatte, mich
nicht Seemann werden zu lassen.
    Sechs Jahre sind es nun, daß ich den Plan zu meinem jetzigen
Unternehmen faßte. Ich erinnere mich noch, als sei es gestern
gewesen, der Stunde, in der ich mich der großen Aufgabe widmete.
Ich begann damit, meinen Körper zu stählen. Ich nahm an den Fahrten
mehrerer Walfischfänger in die Nordsee teil; ich ertrug freiwillig
Kälte, Hunger und Durst und versagte mir den Schlaf; ich arbeitete
zuweilen härter als der letzte Matrose und widmete dann meine
Nächte dem Studium der Mathematik, der Medizin und jenen
physikalischen Disziplinen, von denen der Seefahrer Nutzen erwarten
darf. Zweimal ließ ich mich als gemeiner Matrose auf einem
Grönlandfahrer anwerben und entledigte mich erstaunlich gut meiner selbstgewählten Aufgabe. Ich
muß gestehen, ich empfand einen gewissen Stolz, als mir der Kapitän
die Stelle eines ersten Offiziers auf seinem Schiffe anbot und mich
allen Ernstes beschwor, zu bleiben. So hoch hatte er meine Dienste
schätzen gelernt.
    Habe ich es also nicht verdient, liebe Margarete, eine große
Aufgabe zu erfüllen? Ich könnte ein Leben voll Reichtum und Luxus
führen, aber ich habe den Ruhm den Annehmlichkeiten vorgezogen. O
möchte mir doch eine ermunternde Stimme sagen, was ich zu erwarten
habe! Mein Mut ist groß und mein Entschluß steht fest; aber mein
Selbstvertrauen hat oft gegen tiefste Entmutigung anzukämpfen. Ich
habe eine lange, schwierige Reise vor mir, deren Anforderungen
meine ganze Kraft beanspruchen, und ich soll ja nicht nur mir
selbst den Mut erhalten, sondern auch noch den anderer
anfeuern.
    Gegenwärtig haben wir die für das Reisen in Rußland
vorteilhafteste Jahreszeit. In Schlitten fliegt man pfeilschnell
über den Schnee. Die Kälte ist nicht lästig, wenn man sich genügend
in Pelze gehüllt hat, und das habe ich mir schon angewöhnt. Denn es
ist ein bedeutender Unterschied, ob Du an Deck spazieren gehst oder
stundenlang unbeweglich auf einen Sitz gebannt bist, so daß Dir das
Blut tatsächlich in den Adern erstarrt. Ich habe absolut nicht den
Wunsch, auf der Poststraße zwischen Petersburg und Archangel zu
erfrieren.
    Dorthin will ich in vierzehn Tagen oder drei Wochen abreisen.
Ich beabsichtige, dort ein Schiff zu mieten und unter den an die
Walfischfängerei gewöhnten Leuten die nötige Anzahl von Matrosen
anzuwerben. Ich werde kaum vor Juni abfahren können. Aber wann
werde ich zurückkehren? Wie könnte ich wohl diese Frage
beantworten, liebste Schwester? Wenn ich Erfolg habe, können viele,
viele Monate, vielleicht Jahre vergehen, ehe wir uns wiedersehen.
Wenn es mißlingt, sehen wir uns vielleicht eher wieder oder nie
mehr.
    Leb wohl, Margarete. Der Himmel schenke Dir seinen reichen Segen
und schütze mich, daß es mir auch fernerhin vergönntsei, Dir meine Dankbarkeit für all Deine Liebe und
Güte zu beweisen.
    Stets Dein treuer
Bruder 
R. Walton.

An Frau Saville, London
    Archangel, 28. März
18..
    Wie langsam hier doch die Zeit vergeht, mitten in Eis und
Schnee! Der zweite Schritt zur Ausführung meines Planes ist getan.
Ich habe ein Schiff gemietet und bin daran, meine Matrosen zu
heuern. Die, welche ich schon angeworben habe, scheinen mir Leute
zu sein, auf die man sich verlassen kann
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