Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Flutgrab

Flutgrab

Titel: Flutgrab
Autoren: Meister Derek
Vom Netzwerk:
bezahlen.
    Das war alles.
    Nur dieser eine Gedanke.
    Ich muss bezahlen.
    Im nächsten Augenblick rutschte er schreiend der Nacht entgegen, hörte die Schindeln an sich entlang- und davonschlittern und versuchte verzweifelt, sich im Schlingern festzuklammern. Zu spät. Er spürte, wie sein Hintern mit einem Mal nichts mehr unter sich hatte. Die Kante! Die Traufe! Er war über das Dach hinausgeschossen.
    Vier Klafter bis zur Engelsgrube. Da war nichts außer Luft. Zwanzig Ellen bis in den Tod. Rungholt schrie. Er schrie und schrie, und er stürzte und schrie, und er fiel ins Schwarz.

3
    Durch das Schwarz am Grunde des Ozeans trieb der Schnee.
    Er fiel nicht vom Himmel, denn es gab keinen Himmel.
    Hier gab es kein Oben, kein Unten, kein Rechts, kein Links.
    Der Schnee schwebte aus dieser raumlosen Finsternis heran wie sanfte Gänsefedern. In großen, zarten Flocken.
    Rungholt fror. Er wollte sich auf den Bauch rollen, aber statt seiner Glieder war da bloß Kälte.
    Die Flocken tanzten durch das Dunkel, zuckten eigentümlich, weil ein zitternder Wind, den Rungholt nicht spürte, an ihnen zerrte. Warum er sie sah? In dieser vollkommenen Schwärze? Das wusste er nicht.
    Der Schneefall wurde dichter, die Flocken wurden kleiner und härter. Mehr und mehr von ihnen tanzten einen aufgeregten Reigen.
    Es war ihm, als wollten sie ihn treffen, ihn verletzen. Und tatsächlich wurde aus dem Tanz eine wilde Jagd. Der Schnee reihte sich auf, die Flocken bildeten Fäden.
    Dafür wirst du bezahlen, schoss es ihm abermals durch den Kopf. Für den Schnee wirst du bezahlen.
    Rungholts Welt wurde weiß, während er bewegungslos in den Nachthimmel starrte. Wie Perlen auf einer Schnur stürzten die weißen Kristalle jetzt auf ihn herab. Ihr weißes Glitzern bekam einen rötlichen Schimmer, und es war Rungholt, als verwandelte sich der Schnee in Funken.
    Der Schnee, er trägt mich in die Hölle. Lass ihn schmelzen. Ich bitte dich, Gott.
    Der Schnee wurde ein Feuergestöber, das pfeilschnell seine Glut auf ihn abschoss.
    »Die Hölle«, entfuhr es ihm, während die Feuertropfen niedertosten.
    Lass ihn nicht wiederkommen. Nimm den Schnee von mir.
    Er schrie und wollte sich herumwerfen, konnte sich aber vor Schmerz nicht bewegen. »Weg! Weg! Verschwinde!« Ein Fisch auf dem Koggendeck schnappt nach Luft.
    Im nächsten Moment erkannte Rungholt endlich seine Frau und die Magd. Sie beugten sich über ihn, und er bemerkte, dass keine schimmerichte Glut auf ihn gestürzt war, sondern es die Rinnsale des Gewitters gewesen waren. Sie glühten und glitzerten rot, weil neben Alheyd und Hilde ein Mann mit einer Fackel stand.
    »Er lebt«, hörte er eine ruhige, sonore Stimme.
    Wo war er? Wenn dies nicht die Hölle war, dann wohl die Engelsgrube. Die harten Feldsteine, die er vor seinem Haus in die Pfützen geschmissen hatte. Ja. Er war auf die Straße gestürzt.
    »Könnt Ihr Euch bewegen?«, fragte der Fremde. Im Feuerflackern streckten sich beringte Finger nach Rungholts Schulter aus.
    »Mein Rücken.« Langsam gewöhnte Rungholt sich an die Helligkeit. Er blickte in ein langgezogenes Gesicht. Kaum Falten, als habe das Leben sie dem Mann aus dem Antlitz gezogen, dabei aber Kinn und Nase ins Groteske nach unten gezerrt. Eine tiefe Narbe in Form eines gestürzten Y zog sich die ausgemergelte Wange entlang. Sie reichte beinahe vom linken Mundwinkel bis zum Ohrläppchen.
    Im zuckenden Licht der Fackel wirkte der Fremde wie ein lebender Schatten mit zu langen Gliedmaßen und zu langer Nase.
    Spüre ich meine Beine noch? Meine Beine? … Ja. Da sind sie. Ich kann sie bewegen, ich …
    »Ich glaube, ich bin verletzt.«
    Der Mann ließ seine Fackel über Rungholt gleiten, sofort drehte der geblendet den Kopf weg. Jetzt erkannte er endlich, wo er war. Er war in den zweiten Dachboden gestürzt. Keine drei Ellen vor der Traufe hatte sein Gewicht die Schindeln brechen lassen, und er war – statt auf die Straße – bloß ins Innere des Hauses gefallen. Einen Dachboden tiefer. Er lag auf dem Rücken, alle viere von sich gestreckt, wie einer der bunten Käfer, die seine Tochter Mirke einmal zu Dutzenden auf die kleine Mauer am Koberg gelegt hatte.
    Rungholt war bloß einen Klafter tief gefallen, hatte aber mit seinem Rücken ein Fass zerschlagen und lag nun auf einem Butterberg. Dumm bloß, dass er in diesen Butterfässern Geschirr verfrachtete, damit es – vollkommen in Butter eingeschlossen – nicht brechen konnte. In einer Kogge konnten die Fässer ruhig bei
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher