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Fluesterndes Gold

Fluesterndes Gold

Titel: Fluesterndes Gold
Autoren: Carrie Jones
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funkelnden Kristallen oder Diamanten. Es ist wunderschön.
    Ich atme aus. Hatte ich den Atem angehalten? Warum sollte ich den Atem anhalten?
    Weil ich an meinen Dad denke.
    Mein Dad ist hier aufgewachsen. Aber er wird diesen Schnee oder dieses Haus oder den Wald oder mich nie wieder sehen. Er ist weggesperrt von all dem, weggesperrt von mir, vom Leben. Er ist ein Gefangener, und ich würde alles darum geben, ihn zu befreien.
    Ich drücke meine Hand gegen den kalten Fensterrahmen. Am Rand des Waldes bewegt sich etwas, eigentlich nur ein Schatten, ein Stück Dunkelheit, das dunkler erscheint als die Baumstämme und Äste.
    Ich lege den Kopf schief und spähe angestrengt hinaus. Nichts.
    Dann kommt das Gefühl. Imaginäre Spinnen krabbeln über meine Haut.
    Meine Hand löst sich vom Holz des Rahmens. Der Vorhang senkt sich wieder vor das Fenster. Auf Zehenspitzen gehe ich zurück ins Bett, dabei überwinde ich die Entfernung zwischen Fenster und Bett so schnell wie möglich, aber ohne zu rennen.
    »Da ist nichts.«
    Das ist der Mist beim Lügen. Man kann sich nur sehr schwer selbst belügen und die Lüge dann tatsächlich glauben. Es ist viel besser, seine Phobien herunterzubeten, sich der Wahrheit zu stellen und seinen Weg zu gehen. Aber das kann ich nicht. Noch nicht.
    Didaskaleinophobie
    Die Angst vor dem Zur-Schule-Gehen
    Das Beste am Weinen ist, dass es mich immer umhaut. Ich habe vergangene Nacht wirklich gut geschlafen, obwohl die blöden Hunde um Mitternacht herum so laut geheult haben. Gut, dass ich keine Cynophobie habe, sonst wäre ich die ganze Nacht ausgeflippt.
    Jetzt ist es ruhig.
    Der Schnee dämpft alle Geräusche der Außenwelt, und als mein Wecker schrillt, habe ich absolut keine Lust aufzustehen und mich der Welt zu stellen. Grandma Bettys Haus ist so schön sicher und gemütlich, vor allem auch mein Bett. Trotzdem hieve ich meine müden Knochen aus dem Bett, weil ich aus dem Fenster sehen will. Alles ist schneebedeckt, dabei ist es erst … was? Mitte Oktober.
    »Das kann einfach nicht sein«, verkünde ich und ziehe die Gardinen ganz zur Seite. Das merkwürdige weiße Licht, das der Schnee reflektiert, strömt in mein Zimmer.
    Es ist Frühstückszeit, und ich bin ganz allein. Grandma Betty hat mir mitten auf dem Tisch eine riesige Notiz hinterlassen. Sie liegt direkt neben einem Wasserfleck, der aussieht wie South Carolina. Ich schlucke und berühre den Tisch dort, wo Charleston sein würde. Dann schaue ich mir die Notiz an:
    Zara … Ich musste los. Auf Route 9 hat sich ein Langholzlaster quer gestellt. Nur ein paar Leichtverletzte. Der Unterricht heute findet statt. Du hast Dich beim Beten nicht genug angestrengt. Ich wünsche Dir viel Glück fürs nächste Mal. Ha, ha. Alle Elftklässler haben Sport, nimm also entsprechende Klamotten mit. Fahr vorsichtig. Es ist glatt. Hier ist eine Karte. Der Weg ist leicht zu finden. Fahr nicht im Dunkeln. Ich bin nach Einbruch der Dunkelheit zu Hause. Zeig’s ihnen! Die Schlüssel liegen hier. –>
    Sie hat einen Pfeil gemalt, der direkt auf die Schlüssel zeigt, die neben der Notiz auf dem Tisch liegen. Als wenn ich sie sonst nicht gefunden hätte.
    Ich nehme sie mit einem Finger und lasse sie in der Luft baumeln. Einer verfängt sich in dem Faden um meinen Finger. Er lockert sich langsam.
    Mein Katastrophenmorgen beginnt damit, dass ich die Stufen vor dem Haus hinunterrenne und in den Baum schlittere. Eine dünne Eisschicht verbirgt sich unter dem Schnee. Ich sehe sie nicht. Ich schwanke und rutsche, rudere mit den Armen, bis ich mit einer großen Kiefer zusammenstoße. Ich umarme sie schnell, damit ich nicht mit dem Gesicht gegen die Rinde pralle.
    »Scheiße!«
    Langsam und vorsichtig entferne ich mich von dem Baum. Wenn man die Füße nicht anhebt, kann man sich gleitend wie ein Schlittschuhläufer über das Eis bewegen. In Schuhen mit Absätzen ist das natürlich nicht ganz einfach.
    »Einen Fuß vor den anderen«, sage ich mir. »Einen Fuß vor den … Mist!«
    Schwankend und wieder mit den Armen rudernd stürze ich auf das Auto zu. Meine Hände klatschen auf die Motorhaube. Der Atem, den ich ausstoße, bildet eine Wolke in der Luft. Und die hübschen Schuhe, die ich in Charleston gekauft habe? Sie sind über und über mit Schnee bedeckt. Neben meinen Fußstapfen entdecke ich die Abdrücke von Arbeitsstiefeln und winzige Sprenkel von Goldglitter, wie man ihn in der ersten Klasse beim Basteln verwendet. Wahrscheinlich hat Betty irgendwann gestern Abend
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