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Finnisches Roulette

Finnisches Roulette

Titel: Finnisches Roulette
Autoren: Taavi Soininvaara
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und Eiche wurden aufgestellt, hier und da hängte man gebündelte Zweige zum Knabbern und dicke Hanfseile auf, und ein Teil des Bodens wurde mit Erde bedeckt, in der die Kakadus nach Herzenslust wühlen konnten.
    Der heutige Tag sollte für Anna eigentlich ein Freudentag sein, denn endlich begann die Phase der Umsetzung von Konrads Plan. Die Anspannung verstärkte jedoch ihre Depressionen, heute hatte sie sogar im Vogelzimmer das Gefühl, daß ihr die Decke auf den Kopf fiel. Sie sah, wie auf dem großen, von einer Ziegelmauer umgebenen Hof die kleinen Vögel hin und her flatterten, und schloß die Augen. Nur im Vogelzimmer konnte Anna hinausschauen, in allen anderen Räumen des Hauses wurden die Vorhänge immergeschlossen gehalten, und sie verließ das Haus niemals. Anna konnte den Anblick der Außenwelt nicht ertragen, nicht einmal den ihrer Abbilder. In der Villa Siesmayer, einem prunkvollen Gebäude im Frankfurter Westend, hatte sie sich verschanzt, nachdem man bei ihr vor einem Jahrzehnt die unheilbare Krankheit ALS festgestellt hatte. An die Diagnose des Arztes erinnerte sie sich, als wäre es gestern gewesen: Sie würde unter Muskelschwund leiden, ihr Sprechvermögen verlieren, den Rest ihres Lebens im Rollstuhl zubringen und nach dreizehn oder spätestens zwanzig Jahren an der Krankheit sterben. Zehn der vorhergesagten Jahre waren nun schon aufgebraucht.
    Anna hörte auf, Tithonus den Nacken zu streicheln; der Vogel wirbelte die spröden grauen Haare seiner Herrin durcheinander, als er pfeifend aufflog und sich neben Eos setzte. Mit ihrer schmalen Hand nahm Anna die Handtasche vom Gepäckständer des Rollstuhls. Sie holte den Spiegel heraus und brachte ihre Frisur in Ordnung. Noch immer kleidete und schminkte sie sich sorgfältig, obwohl keine Gäste mehr die Villa Siesmayer besuchten. Sie hatte Angst, daß ihre Gebrechlichkeit bald auch das Personal vertreiben würde. Anna war müde, und der dunkle Schatten der Angst schwebte irgendwo ganz in ihrer Nähe. Langsam, aber sicher zehrte die Krankheit ihren Lebenswillen auf, genau wie ihren Körper. Lähmende Verzweiflung verdunkelte ihr Gemüt jedesmal, wenn sie über ihren allmählichen Verfall nachsann.
    Sie versuchte an etwas Positives zu denken und blickte liebevoll auf das Foto von Werner. Bilder von ihm fanden sich in jedem Raum der Villa Siesmayer. Seit dem Tod ihres Mannes waren erst zwei Monate vergangen, aber alle Freunde hatten sie schon im Stich gelassen. Anna wußte, daß auch Kakadus monogam waren. Ein Papagei, der allein zurückblieb, trauerte sich oft zu Tode. Würde es ihr auch soergehen? Manchmal überlegte Anna, ob Werner wirklich am Steuer eingeschlafen oder mit seinem Wagen absichtlich in den Abgrund gefahren war, um sie nicht mehr pflegen zu müssen. Vielleicht bestand der Sinn ihres Lebens darin, zu prüfen, wieviel die ihr nahestehenden Menschen ertragen konnten.
    »Anna, Anna … ich, ich …«, wiederholten die Lieblinge der Hausherrin und pfiffen dazwischen, aber Anna war tief in Gedanken versunken. Der Tod Werners hatte auch den Machtkampf um die H & S Pharma ausgelöst. Werner war der Haupteigentümer der Arzneimittelfirma und der Vorstandsvorsitzende des Unternehmens gewesen, er traf alle Entscheidungen, auch die über den Einsatz der Forschungsmittel. Nach Annas Erkrankung hatte Werner eine Gruppe zur Untersuchung der ALS-Krankheit gegründet und im Laufe der Jahre Millionen, erst Mark und dann Euro, in deren Arbeit investiert.
    Jetzt standen das ALS-Forschungsprogramm und Annas Zukunft auf des Messers Schneide. Sie konnte nicht darüber bestimmen, was H & S Pharma und ihre Tochterunternehmen künftig erforschen würden, denn sie verfügte nicht über die dafür erforderliche Aktienmehrheit, weil Werner ihr nicht alle seine Aktien hinterlassen hatte.
    Anna wußte, daß es noch jemanden gab, der die Herrschaft über die Firma anstrebte. Die Witwe des anderen Gründers und Haupteigentümers von H & S Pharma hatte kürzlich ihre Aktien an die Future Ltd. verkauft, eine Investmentgesellschaft, weiß der Himmel aus welchem Land. Anna nahm an, daß die Future Ltd. das Programm zur Erforschung von ALS stoppen würde, sobald sie konnte. Die amyotrophe Lateralsklerose war, betriebswirtschaftlich gesehen, kein lohnenswertes Forschungsobjekt, weil in der ganzen Welt nur siebzigtausend Menschen unter dieser Krankheit litten.
    Eos, die zurückhaltender war als ihr Partner, flog auf die Armlehne des Rollstuhls und drückte mit ihrem Schnabel auf
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