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Feuerwasser

Feuerwasser

Titel: Feuerwasser
Autoren: Paul Lascaux
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2008

    Es hätte das schönste Fest des Jahres werden sollen, und wenn es auch nicht das schönste wurde, so doch dasjenige, an das sich die Menschen am längsten erinnern sollten: der Justistaler Chästeilet am Freitag nach dem Eidgenössischen Buß- und Bettag. Obwohl man sagen musste, dass die Ereignisse der letzten Wochen schwer zu überbieten waren.
    So fing denn der Tag bereits mit Donnergrollen an. Es waren keine lieblichen Gesänge, die über Fels und Weide klangen, es war das Echo keltischer Maßlosigkeit, wie sie bei einem Jungbauern aus dem Sound System seines Mazda Pickup dröhnten, der den düsteren Metal-Folk von Eluveitie ins Tal rumpeln ließ, bis ihn einer aus dem Jodlerclub mit Handzeichen und unhörbarem Gebrüll darauf aufmerksam machte, dass an einem Erntedankfest heidnische Musik unerwünscht sei.
    Beleidigt zog sich der Voralpen-Death-Metal-Fan zurück und ließ die Alten das riesige Festzelt allein aufstellen, das dem Nieselregen, der nun einsetzte, standhalten sollte. So war es denn noch nicht fertig aufgebaut, als die ersten Bauern mit Traktoren und geschmückten Anhängern, teils mit kunstvollen Aufbauten versehen, anrückten und die Busse im Viertelstundentakt Tausende von Besuchern aus dem Unterland ankarrten. Darunter befanden sich auch Heinrich Müller und Nicole Himmel, während Bernhard Spring noch mit der Einvernahme von Simon Abderhalden beschäftigt war. Sie trafen Martin Gerber mit seinem Wagen, der auf der Weide neben den drei Speichern auf dem Festgelände unterhalb Spicherberg beinahe schon in der aufgeweichten Erde stecken blieb.
    »Hoffentlich hört der Regen bald auf, sonst kann ich meinen Anhänger erst morgen abholen. Kommt rein«, sagte er zur Begrüßung und half ihnen auf die Strohballen im mit Plastikplane gedeckten Heuwagen. »Willkommen.«
    Das Gefährt war bereits voller Leute, die der Reihe nach vorgestellt wurden: Gerbers Cousine Irene Hänseler mit Ehemann Hermann und den Sprösslingen Elton, Kevin und Sabrina, die gerade mit Jennifer und Justin stritten, kampferprobten Nachkommen von Luginbühl Rolf und Andrea, die sich in Schwamendingen gegen ihre Kollegen zu behaupten gelernt hatten und keineswegs im Nachteil waren gegen die zahlenmäßige Übermacht der Landkinder. Dann saßen da noch ein einsamer Wanderer namens Joel Koch und Gerbers Nachbarn Ernst (Bauer) und Yolanda (Coiffeuse) Bangerter.
    Dergestalt gegenseitig informiert machte man sich über Ankezüpfe, gekochte Eier und Kaffee fertig aus der Thermosflasche her, um Feuchtigkeit und Kälte zu trotzen. Bald stockte das Gespräch, das noch kaum über die Begrüßungsrunde hinausgekommen war.
    Martin war sichtlich darum bemüht, vom Brauchtum des Chästeilet zu berichten: »Gegen Mittag holen wir die Käselaibe aus den Spychern. Auf den bereitgestellten Holzbrettern werden sie zu Pyramiden getürmt, unten die großen, dann immer kleinere, jeweils das Gewicht in Pfund angeschrieben, ältere und jüngere Laibe gemischt. Eine Kuh liefert während der Alpsaison zum Beispiel 3.000 Pfund Milch. 400 Pfund nennt man ein Saum, vier Säume sind ein Los, das entspricht etwa 150 Pfund Käse, also sechs bis sieben Laibe à 20 bis 25 Pfund. Der Besitzer der Kuh kriegt also 7,5 Säume Käse, also ein Los plus 3,5 Säume. Weil das nicht aufgeht, muss man eben teilen. Darum nennt man den Anlass Chästeilet.«
    Die Informationen fielen auf nicht besonders fruchtbaren Boden, weil sich die Kinder inzwischen um die Züpfe stritten und die Eltern alle Hände voll zu tun hatten, ihre Sprösslinge unter Kontrolle zu halten. Eigentlich hörten nur noch Nicole Himmel und Heinrich Müller zu. Er fügte noch an: »Es trifft beim Teilen oft zwei Bauern, die sich nicht riechen können. Dann ist Streit vorprogrammiert.« Kleinlaut sagte er noch: »Am Nachmittag findet zum Abschluss der Alpabzug statt, da kommen der umgekehrten Reihe nach die Kühe aus dem Justistal herunter ins Tal, wobei diejenigen, die am meisten Milch gegeben haben, festlich geschmückt sind.«
    »Also zuerst die vom Hintersberg mit Sämu Wildberger?«, fragte Nicole.
    »Eigentlich die vom Oberhofner Berg. Aber da hat es früh eingeschneit, das Gras ist am Boden liegen geblieben, dann fault es rasch. Deswegen sind sie letzte Woche schon ins Tal gezogen. Also kommt wohl Sämu zuerst.«
    »Und der Spicherberg zuletzt«, stellte Heinrich fest.
    »Genau. Das geht etwa bis fünf Uhr nachmittags.«
    Die Kinder stöhnten bereits. Alle fünf hatten sich trotz der Gegensätze
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