Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum
Autoren: Irina Tabunowa
Vom Netzwerk:
mal zu deiner Nachbarin.«
    Â»Aaahh!«
    Â»Du musst dich ablenken. Denk an irgendetwas Angenehmes. An die Sonne, zum Beispiel, das Meer, Kinder spielen …«
    Eine von uns fünfen beginnt zu gebären. Wie in der Fernsehserie
Emergency Room
rennen die Ärzte wild umher und rollen ihr eine Fahrtrage ans Bett, die viel höher ist als ihre Liege, um sie zum Kreißsaal zu fahren. Die gebärende Frau klettert stöhnend auf die Fahrtrage. Bis heute quält mich eine Frage: Warum muss man mit seinen Geburtswehen unbedingt von einer Liege auf die andere kriechen? Soll das etwa ein zusätzlicher Test der Überlebensfähigkeit in Extremsituationen sein? Schließlich ist die Frau hinübergeklettert, und man rollt sie zur Zusammenkunft mit ihrem Sprössling. Ein Bett weiter stöhnt eine Gebärende:
    Â»Wasser!!! Gebt mir Wasser!«
    Â»Das geht nicht.«
    Â»Nur ein bisschen, bitte!«
    Â»Dann gebt ihr doch Wasser, macht schon! Sie muss sich übergeben, vielleicht geht es ihr danach besser.«
    Nach einigen Schlucken muss sie sich wirklich übergeben und lässt sich erleichtert aufs Kissen fallen. Mir gibt man nichts zu trinken, obwohl ich großen Durst habe. Man wischt mir nur mit dem Zipfel einer unterm Wasserhahn befeuchteten Windel den Mund ab. Mein Hals ist ausgetrocknet, meine Lippen sind rau vom ständigen Atmen. Bumm! – eine Wehe, ich atme schnell. Bumm! – die nächste, ich schnappe nach Luft. Oh Gott, warum schaltet sich mein Bewusstsein nicht ab? Ein normaler Mensch wäre längst ins Koma gefallen. Wahrscheinlich gibt es einen einfachen Grund,der eine völlige Bewusstlosigkeit unmöglich macht: Denn wer wird dann das Kind zur Welt bringen?
    Â»Ira, deine Harnblase ist voll, soll ich dir einen Katheter einführen oder willst du es selbst probieren?«
    Â»Nein, keinen Katheter, ich mache es selbst.«
    Â 
    Ich sitze auf einem Nachttopf und schaue auf meinen wild tobenden Bauch. Plötzlich spüre ich statt einer weiteren Wehe ein starkes Ziehen im Bauch, als hätte sich jemand auf ihn gesetzt.
    Â»Ira, die Geburtswehen haben bei dir eingesetzt! Steh von der Ente auf! Du gebärst!«
    Â»Oh!«
    Â»Drück nicht, sonst reißt du auseinander. Leg dich auf die Fahrtrage.«
    Ich bin wie benebelt. Ich sehe und höre alles, aber wie durch eine Wand von Wasser. In meiner Nähe schreit noch eine Gebärende. Die Gesichter der Ärzte verschwimmen. Satzfetzen dringen zu mir: »Hat es sich etwa in der Nabelschnur verwickelt? Nein … Kommt wohl mit der Hand zuerst …« Ich fühle, dass etwas Ungutes vor sich geht. Ich versuche, meinen Blick zu fokussieren. Ich sehe, wie sich eine der Hebammen mit einem skalpellähnlichen Gerät nähert. Wollen die mir etwa schon wieder die Fruchtblase durchstechen? Die Ärzte stehen um mich herum und pressen meine Arme gegen den Geburtsstuhl. Die Hebamme richtet ihre Brille, setzt an und macht mit dem Skalpell eine Bewegung, die an ein X erinnert.
    AAAAAAAAAAAAAHHHHHHHHHHHH !!!!
    Ich halte mich nicht mehr zurück. Niemand hat mir gesagt, dass ich hier bei lebendigem Leib geschlachtet werde. Doch praktisch zur selben Zeit kommt das Kindaus mir heraus. Der Bauch fällt sofort mit einem klatschenden Laut in sich zusammen. Das Kind schreit, man zeigt es mir.
    Â»Na, Ira, Junge oder Mädchen?«
    Â»Mädchen …«
    Â»Wie wirst du es nennen?«
    Â»Marina, ja, doch, Marina, Marina …«
    Â»Ein schöner Name, toll, du hast eine Tochter zur Welt gebracht, eine Freude für jede Mutter.«
    Â»Wie ist es, Ira, fühlst du dich jetzt als Mutter?«
    Â»Ich fühle mich wie eine Wurstfabrik …«
    Man legt mir die Tochter auf den Bauch. Sie ist rotblau und voller Schleim. Unzufrieden stößt sie gegen meinen Bauch. Meine Tochter. Jetzt ist das Problem der Unsterblichkeit gelöst. Ich schaue sie an. Sie sieht aus wie Yoda, der nichthumanoide Jedi-Meister aus
Star Wars
oder wie E.T. der Außerirdische. Da kann ich mich gleich mal in Hollywood bewerben. Aber das mache ich später, jetzt will ich erst mal schlafen … Man fährt mich in die Chirurgie zum Nähen. Mir steht der angenehmste Teil der Geburt bevor: die Narkose.
    Â 
    15. Juli 2003
Eine Brust voller Kreuzchen
    Â 
    So wurde also am 30. Mai 2003 meine Vera geboren. Seit einem Monat habe ich einen neuen Status – ich bin eine junge Mutter. Cool. Ich werde ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher