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Fehlt noch ein Baum

Fehlt noch ein Baum

Titel: Fehlt noch ein Baum
Autoren: Irina Tabunowa
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links baumelt zwischen meiner Vene und dem Ständer mit dem Tropf ein Schlauch. Und ich soll nun ruhig wie eine Raupe im Kokon daliegen und gebären.
    Man hat noch eine weitere Schwangere hereingebracht, die wie ich an einen Tropf angeschlossen wird. Nun sind wir zu viert. Ich liege bereits fünfzehn Minuten da, doch das wehenfördernde Mittel zeigt null Wirkung. Neben mir stöhnt auf einmal die Kreißende auf, der man seinerzeit keinen Kohl gegeben hat. Ihr Gesicht wird dunkelrot und ihre Augäpfel verdrehen sich weit nach oben. Doch da bleiben sie nicht, sie fangen an, lustig hin und her zu rollen wie die Kugeln beim Lotto. Was ist das – eine Wehe? Dass ich weiter darüber nachdenke, verhindert ein jäher Schmerz unterhalb meines Bauchs. Es geht los!
    Â»Ira, hast du Wehen?«
    Â»Jaaaaa!«
    Â»Na endlich. Prima. Weißt du, wie man richtig atmet?«
    Das richtige Atmen hat man mir im Schwangerschaftskurs gezeigt. Was man uns da nicht alles beigebracht hat. Zum Beispiel hat uns die Psychologin von ihren Entbindungserfahrungen erzählt – während der gesamten Wehen hatte sie das
Vaterunser
gesprochen, immer wieder, wie ein Mantra. Eine durchaus wirkungsvolle Methode, natürlich nur, wenn einem in dem Moment die Worte einfallen.
    Auf mich kommt eine Schar von Studenten zu, angeführt von ihrem Dozenten. Es sind viele, die Klinik ist an eine medizinische Fachschule angeschlossen. Der Dozent erklärt ihnen etwas, dann nimmt er das Instrument zur Durchstechung der Fruchtblase.
    Â»Mir wurde schon die Fruchtblase durchstochen!«
    Â»Hervorragend, meine Liebe. Lass locker. Achtung, alle herschauen, wie ich jetzt die Fruchtblase durchsteche!«
    Â»Aber die wurde mir schon zweimal durchstochen!«
    Â»Alle zuhören! Regel Nummer eins: Niemals den Worten anderer glauben, immer alles selbst machen. Zapple nicht herum, meine Liebe.«
    Ich kann stolz auf mich sein. Ich opfere mein Leben der Wissenschaft. Und meine Fruchtblase ist nun als Sieb weiterverwendbar.
    Die Schmerzen werden immer stärker. Da sagt man noch, die Wehenschmerzen seien durchaus erträglich, sie seien wie Menstruationsschmerzen. Haha! Wenn man alle Schmerzen aller Menstruationen zusammennimmt, dann ist es wie eine Wehe.
    Unweit von mir stöhnt im übernächsten Bett eine Gebärende. Sehr weiblich. Ich schaffe das nicht auf Anhieb, und zum Üben ist es nun zu spät.
    Â»Irina, hör auf zu kreischen!!!«
    Â»Ich kann nicht anders.«
    Â»Du bist verrückt geworden! Du wirst dir die Stimmbänder überdehnen und einen Monat flüstern müssen. Kreisch nicht so!«
    Ist das etwa ein Kreischen? Doch wohl eher das Rauschen vom Flügelschlag eines Schmetterlings im Vergleich dazu, wie ich aufheulen und mit den Zähnen all die blödsinnigen Drähte zermalmen will. Und denStudenten ein paar Bisse zufügen. Aber es fehlt der Glamour, es ist irgendwie nicht mondän.
    Â»Nie wieder werde ich … nie im Leben!!!«
    Â»Das sagen sie alle. Atme nicht so tief, sondern schnell wie ein Hund, dann ist es leichter. Ich kann dir jetzt kein Schmerzmittel mehr geben, das Kind kommt bald. Merkst du, wie es sich bewegt?«
    Â»Nein. Ich merke nur, dass ich bald wahnsinnig werde. Es tut weh!!!«
    Neben mir auf dem Nachbarbett liegt eine unerschütterliche Frau, Typ Melkerin. Sie ist vor kurzem eingeliefert worden. Eine massive russische Schönheit. Alles ist im Überfluss vorhanden: Wangen, Brüste, Hüften … die Brustwarzen, die sich durch den halb durchsichtigen Stoff abzeichnen, haben die Größe von Untertassen. Auch sie hat dieses tierische wehenfördernde Mittel bekommen, aber offenbar machen ihr die Wehen nicht allzu viel aus. Man könnte ihr eine Teetasse reichen, und das Bild wäre vollkommen. Sie liegt auf der Seite und beobachtet mich mitleidig. Auf ihrem Bett sitzt ihre Ärztin. Ironie des Schicksals – die Ärztin ist das genaue Gegenteil von ihr. Eine Frau unbestimmbaren Alters mit kurzen grauen Haaren, die mit irgendeinem blauen Färbemittel in Berührung gekommen sein müssen. Verdorrt, sehnig, der Mund wie mit einem Rasiermesser eingekerbt.
    Aufmerksam schauen sie mit ihren vier Augen zu mir herüber, dann seufzt die Ärztin und kommt an mein Bett. Zu diesem Zeitpunkt boxe ich erbittert mit der Faust in die Luft, um nicht loszubrüllen.
    Â»Warum bist du nur so emotional?«
    Â»Aaahh!«
    Â»Schau doch
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