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Falsetto

Falsetto

Titel: Falsetto
Autoren: Anne Rice
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kleine Jungen »verschnitten« worden waren. Einige von ihnen würden zu Männern heranreifen, würden heiraten, Kinder haben. Aber ganz gleich, wie gut die Violinisten spielten, ganz gleich, wieviel die Komponisten komponierten, niemand konnte je solche Bekanntheit, solchen Reichtum, solch strahlenden Ruhm erlangen, wie das einem großen Kastratensänger möglich war.
    Italienische Musiker waren in den Kirchenchören, den Hofor-chestern, den Opernhäusern der ganzen Welt gefragt.
    Den Sopranisten jedoch verehrte die Welt wie einen Gott. Kö-
    nige wetteiferten darum, ihn an ihrem Hofe zu Gast zu haben, dem Publikum stockte der Atem, wenn es ihn singen hörte. Er war es, der das wahre Wesen der Oper zum Leben erweckte.
    Nicolino, Cortono, Ferri, an ihre Namen erinnerte man sich noch lange, nachdem man die Komponisten, die für sie komponiert hatten, vergessen hatte. Und in der kleinen Welt des Conservatorio gehörte Guido zu einer auserwählten, einer privilegierten Gruppe von Schülern, die, während man ihre einzigartige Begabung förderte, besser genährt und gekleidet wurden als die anderen und denen man wärmere Zimmer zur Verfügung stellte.
    Er war erster Sänger im Chor, stand als Solist auf der Bühne des Conservatorio und schrieb bereits Übungen für die jüngeren Schüler. Als er zehn Jahre alt geworden war, durfte er mit ins Theater gehen, um Nicolino singen zu hören. Er bekam ein eigenes Cembalo, und man erlaubte ihm, länger aufzubleiben, um darauf üben zu können. Warme Decken und ein schöner Rock waren sein Lohn. Das war mehr, als er je zu erbitten gewagt hätte. Manchmal brachte man ihn auch in einen prächtigen Palazzo, damit er die dort versammelten Gäste mit seinem Gesang erfreute.

    Bevor in seinem zweiten Lebensjahrzehnt die Zweifel begannen, hatte Guido sich durch ständiges Üben und eine gesunde Lebensweise eine stabile Grundlage geschaffen. Seine Stimme, die hoch, klar, ungewöhnlich leicht und geschmeidig war, galt inzwischen allgemein als Phänomen.
    Aber wie es normalerweise bei jedem Menschen geschieht, so hörte das Blut seiner Vorfahren auch bei ihm - trotz der Kastration - nicht auf, seinen Körper weiter zu formen. Er, der von einem dunkelhäutigen und untersetzten Menschenschlag abstammte, schoß nicht zu einer Bohnenstange von einem Eunuchen empor, wie es viele seiner Mitschüler taten. Er be-saß eine eher kräftige, wohlproportionierte Statur und vermittelte den trügerischen Eindruck, Kraft zu besitzen.
    Obwohl sein lockiges braunes Haar und der sinnliche Mund seinem Gesicht ein wenig das Aussehen eines Cherubs verliehen, ließ ihn ein dunkler Flaum auf der Oberlippe doch männlich erscheinen. Im Grunde wäre er eine angenehme Erscheinung gewesen, hätten zwei Dinge diesen Eindruck nicht gestört: Zum einen war da seine plattgedrückte Nase, die er sich als Kind bei einem Sturz gebrochen hatte. Zum anderen glitzerte in seinen braunen Augen, die groß und aus-drucksvoll waren, die verschlagene Roheit jener Bauern, die seine Vorfahren gewesen waren.
    Aber Guido war in seinem Verhalten und seiner Erscheinung alles andere als grob. Vielmehr nahm er sich seine Lehrer zum Vorbild und eignete sich deren würdevolles Benehmen an.
    Auch in den Fächern Dichtkunst, Latein und dem klassischen Italienisch, das man ihn lehrte, war er eifrig bei der Sache.
    So wuchs er zu einem jungen Sänger von bemerkenswerter Ausstrahlung heran, dessen auffallende Eigenheiten ihm einen verwirrenden, verführerischen Reiz verliehen.
    Einer Sache jedoch war er sich in keiner Weise bewußt: Er wirkte bedrohlich. Seine Familie war roher gewesen als die Tiere, die sie hielt, und Guido erweckte den Eindruck, als wäre er zu allem fähig. Es war sein zorniger Blick, die zerquetschte Nase, der üppige Mund - das alles zusammen.

    Und so umgab ihn, ohne daß er es merkte, ein Schutzschild.
    Niemand versuchte ihn je zu schikanieren.
    Doch alle, die Guido kannten, mochten ihn. Die normalen Jungen mochten ihn ebensosehr wie die Eunuchen unter seinen Mitschülern. Die Violinisten liebten ihn, weil er sich für sie besonders interessierte und herrliche Stücke für sie schrieb. Er galt als ruhig und ausgeglichen, als sanftes Bärenjunges, vor dem man sich, wenn man ihn erst einmal näher kannte, nicht zu fürchten brauchte.
    Guido war fünfzehn Jahre alt, als man ihm eines Morgens sagte, er solle nach unten ins Büro des Maestro kommen. Er hatte keine Angst, denn er war noch nie in Schwierigkeiten geraten.
    »Setz
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