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Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]

Titel: Exil - Wartesaal-Trilogie ; [3]
Autoren: Aufbau
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hat nachschicken lassen können.
    Ja, es ist Zeit, Hanns muß fort. Er nimmt seine Ledertasche. »Hast du auch gemerkt, Mutter«, fragt er, »daß ich das Fenster abgedichtet habe? Jetzt zieht es bestimmt nicht mehr.« Es verdrießt ihn, daß er, obwohl beinahe achtzehn, durch sein Studium und andere ihm wichtige Dinge zu sehr in Anspruch genommen ist, um selber ein paar Sous für den Unterhalt der Familie zu verdienen. Wenigstens hat er einegeschickte Hand und kann den andern durch kleine technische Hilfeleistungen das Leben leichter machen.
    Solange Hanns da ist und schwatzt, ist das ärmliche Zimmer voll von der Frische seiner achtzehn Jahre. Aber kaum ist er fort, so fallen die hundert kleinen Dinge des Alltags wieder über Anna her. Da steht der Tisch mit den Speiseresten und dem schmutzigen Geschirr; aber sie, die sonst so Ordentliche, läßt ihn stehen, wie er ist. Es ist Milch übriggeblieben; hoffentlich macht Frau Chaix, die Aufwartefrau, keine Dummheit und gießt frische Milch dazu. Man hat es ihr zwar schon drei- oder viermal gesagt; doch sie ist jung, hat nichts im Kopf als Männer, ist schlampig und macht immer den gleichen Unsinn. Und sie selber hat einfach nicht die Zeit, sich nach einer neuen Aufwartefrau umzutun und sie abzurichten. Ekelhaft, daß man sich mit dergleichen Zeug herumschlagen muß, statt sich um Sepps Musik zu kümmern. Anna liegt mit geschlossenen Augen, scheinbar friedlich. Aber der Kopf ist ihr voll von bösen Gedanken. Es kratzt sie, daß der Junge in solcher Enge und Ärmlichkeit aufwächst. Es kratzt sie, daß sie sich vor ihm sehen lassen muß, mit Sepp im Bett liegend, mit ungefärbtem Haar. Dreißig Franken Haarfärben. Was sind dreißig Franken? Nichts. Aber heute muß man sich überlegen, daß man dafür fünf Kilo Fische kaufen kann, zwei Kilo Butter, sechzehn Kilo Brot, daß man die Tagesmiete eines guten Zimmers davon zahlen kann, daß man dafür vierzigmal in der Metro fahren kann und dreimal ins Kino gehen. Zwar hat sie sich damit abgefunden, daß es jetzt anders ist als früher; ja, sie kann auch noch, und das nicht selten, gut und von Herzen lachen, sie denkt nicht daran, klein beizugeben: aber einen Seufzer kostet es sie doch, wenn sie sich überlegt, daß Sepp, solange sie in München waren, die fraglichen dreißig Franken in einer Viertelstunde verdient hat. Jetzt muß sie für dreißig Franken fast den ganzen Tag arbeiten und zwei Tage darüber nachdenken, woran sie dreißig Franken einsparen soll, wenn sie sich die Haare auffärben lassen will.
    Sepp zerbricht sich darüber nicht den Kopf. Die hundert kleinen Ängste, die einen den Tag über plagen und des Nachts manchmal nicht schlafen lassen, ihm können sie nicht an. Ihn schiert es nicht, daß er für die Welt niemand mehr ist; er ist innerlich der gleiche geblieben. Aber die andern haben heute schon, zwei Jahre nach dem Umsturz, vergessen, was er im Musikleben Deutschlands bedeutet hat. Sie jammert dem Vergangenen nicht nach, hin ist hin, verloren ist verloren, aber sie macht sich auch nichts vor. Sepp hat seine Musik, er schreibt sie für sich selber und für sie, im übrigen arbeitet man und schlägt sich durch. Aber die Geltung, die sich Sepp in Deutschland erarbeitet hat, die ist futsch und hilft ihm keinen Deut, nun er hier in Paris sein Brot verdienen soll.
    Natürlich hat Sepp trotzdem recht gehabt, daß er, gleich nachdem Hitler kam, sein Amt hinschmiß. Zwei Tage später hätten sie ihn davongejagt. Auch daß er ins Ausland ging, war richtig und gut. Nachdem er vorher schon die immer dickere Luft der Reaktion nicht hatte vertragen können, war es schwer vorstellbar, wie er in einem Staat hätte leben sollen, in welchem ein Hitler diktierte. Ihr wird ganz warm, wenn sie daran denkt, wie entschlossen der sonst so langsame Mann alles hat liegen- und stehenlassen und mit welcher Verve er den Brief abgefaßt hat, in dem er dem Kultusminister seinen Rücktritt mitteilte. Auch sie hat damals keine Sekunde Bedenken getragen, das alles gutzuheißen.
    Daß das Exil keine kurze Zeit des Heroismus und des Pathos sein werde, sondern eine lange, zähe Epoche, träg sich hinschleichend, gefüllt mit kleinen Widerwärtigkeiten, hat sie sich vorher gesagt. Aber es sind hundert läppische Scherereien dazugekommen, von denen man in Deutschland keine Ahnung hatte haben können. Was für Schwierigkeiten allein macht zum Beispiel eine so alberne Geschichte wie ein Identitätsausweis. Ihre Pässe sind abgelaufen, das
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