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Evolution

Evolution

Titel: Evolution
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kleinen
Magnolienbüschen hing Moos. Es war, als ob der Wald mit einer
dicken grünen Lackschicht überzogen wäre.
    Doch die Blätter waren übersäuert, das Moos und die
Farne bräunlich verfärbt. Der durch die Gase der starken
Vulkanausbrüche im Westen vergiftete Regen hatte Flora und Fauna
gleichermaßen geschädigt. Es war ein ungesundes Klima.
    Trotzdem träumten Dinosaurier auf der Lichtung.
    Ankylosaurier hatten sich in einem schützenden Kreis
versammelt und die Jungen in die Mitte genommen. Die gelbschwarzen
Panzer waren dick mit glitzerndem Tau überzogen.
    Diese riesigen Kaltblüter standen wie militärisches
Gerät in der lauen Luft der Kreidezeit.
    Im milchigen Licht hatten Purgas Augen eine Motte ins Visier
genommen. Das Insekt saß dick und zufrieden auf einem Blatt und
hatte die braunen Flügel zusammengefaltet. Mit einem
präzisen Sprung schnappte Purga sich die Beute mit den Pfoten.
Zuerst knabberte sie mit den kleinen Schneidezähnen die
Flügel ab. Dann biss sie der Motte genüsslich in den
Unterleib. Es hörte sich an wie der Biss in einen Apfel. In
diesem kurzen Moment, wo sie den Mund voll Futter hatte,
verspürte Purga einen Anflug von Zufriedenheit in ihrem sonst so
entbehrungsreichen und harten Leben.
    Die Motte verendete. Mit dem Fünkchen Bewusstsein empfand sie
kaum Schmerz.
    Nachdem Purga die Motte verspeist hatte, zog sie weiter. Es gab
hier kein Gras als Deckung – die Gräser sollten das Land
erst noch erobern –, aber es gab eine grüne Decke aus
niedrigen Farnen, Moosen, Krüppelkiefern, Schachtelhalmen und
Koniferenschösslingen und sogar ein paar Farbtupfer in Form von
purpurroten Blumen. Sie vermochte sich fast lautlos durch diese
Vegetation zu bewegen und sie als Deckung zu nutzen. In der
Dunkelheit war die Einzeljagd die beste Strategie. Räuber legten
sich im Dunkel der Nacht in den Hinterhalt. Eine Gruppe wäre
viel auffälliger gewesen als ein einzelner Pirschgänger.
Also jagte Purga allein.
    Für Purga war die Welt eine Scheibe in Schwarz, Weiß
und Blau, erleuchtet vom Licht des Kometen, das hinter hohen
verstreuten Wolken hervordrang. Ihre großen Augen hatten nicht
die hohe Farbempfindlichkeit der Dinosaurier-Augen – manche
Räuber vermochten sogar Farben außerhalb des von Menschen
wahrnehmbaren Spektrums zu sehen, zum Beispiel trübes Infrarot
und funkelndes Ultraviolett –, doch dafür hatte sie eine
gute Nachtsichtfähigkeit. Und Schnurrhaare, die wie taktile
Radarstrahlen die Umgebung sondierten.
    Purga hatte mit den Schnurrhaaren, einer spitzen Schnauze und
kleinen, angelegten Ohren eher das Aussehen eines Nagetiers als eines
Primaten. Sie hatte etwa die Größe eines Buschbabys. Auf
dem Boden bewegte sie sich auf allen vieren und schleppte dabei den
langen buschigen Eichhörnchenschwanz nach. Für menschliche
Augen hätte sie eigenartig gewirkt – fast reptilienartig in
ihrer reglosen Lauerstellung, vielleicht auch irgendwie unfertig.
    Dennoch war sie, wie Joan Useb eines Tages herausfand, ein Primat,
beziehungsweise ein Vorläufer dieser großen Tierklasse.
Durch ihr kurzes Leben erstreckte sich ein molekularer Fluss, dessen
Quelle die tiefste Vergangenheit und dessen Mündung die
allerfernste Zukunft war. Und aus diesem Fluss der Gene, der im
Verlauf von Jahrmillionen sich ständig verbreiterte und
verzweigte, würde eines Tages die Menschheit auftauchen: Jeder
Mensch, der je geboren wurde, würde von Purgas Kindern
abstammen.
    Sie wusste freilich nichts davon. Sie vermochte sich nicht einmal
einen Namen zu geben. Sie war kein bewusstes Wesen wie ein Mensch
– nicht einmal wie ein Schimpanse oder ein Makake; ihr
Bewusstsein entsprach eher dem einer Ratte oder einer Taube. Ihr
Verhalten war von starren Mustern geprägt und wurde von Trieben
beherrscht, deren Gewichtung und Priorität sich ständig
änderten und jeden Moment eine neue Resultierende bildeten. Sie
war wie ein kleiner Roboter. Sie war sich ihrer selbst nicht
bewusst.
    Und doch verfügte sie über ein Bewusstsein. Sie kannte
sogar Freude – die Zufriedenheit eines vollen Bauches, die
beruhigende Sicherheit des Baus, das angenehme Kitzeln der an den
Zitzen saugenden Jungen –, und in dieser gefahrvollen Welt
kannte sie auch Angst. Sehr gut sogar.
     
    Sie schlich um die Füße der träumenden
Ankylosaurier. Als Purga unter den riesigen Leibern hindurchging,
hörte sie über sich das Rumoren der Verdauung der
Riesenechsen. Die Luft war von ihren erstickenden Fürzen
geschwängert. Wegen der
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