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Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche

Titel: Erzaehlungen aus Kolyma 04 - Die Auferweckung der Lärche
Autoren: Warlam Schalamow
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verwandelt wurde. Ewig ist die Spur, die der Graphitstift in der Tajga hinterlässt.
    Die Kerbe wird behutsam gehauen. Am Stamm einer Lärche werden auf Gürtelhöhe zwei Sägeschnitte angebracht und mit der Ecke der Axt das noch lebendige Holz herausgebrochen, um Platz zu machen für eine Notiz. Es entsteht ein Dach, ein Häuschen, eine saubere Tafel mit Vordach gegen den Regen, die bereit ist, die Notiz auf ewig zu bewahren – praktisch ewig, bis ans Ende des sechshundertjährigen Lärchenlebens.
    Der verletzte Körper der Lärche ist wie eine offenbarte Ikone – eine Gottesmutter von Tschukotka, Jungfrau Maria von der Kolyma, die ein Wunder erwartet, ein Wunder offenbart.
    Und der leichte, zarte Harzduft, der Duft des Lärchensafts, der Duft des Bluts, das die menschliche Axt aufgewühlt hat, atmet sich wie der ferne Duft der Kindheit, der Duft von Benzoeharz .
    Die Ziffer ist eingetragen, und die verletzte Lärche, Wind und Sonne ausgesetzt, bewahrt diesen »Anschluss«, der in die große Welt führt aus dem Tajgadickicht – durch die Schneise zum nächsten Dreifuß, dem kartographischen Dreifuß auf dem Berggipfel, wo unter dem Dreifuß, mit Steinen zugeschüttet, in einer Vertiefung eine Marmortafel liegt, der die wahre Länge und Breite eingeritzt ist. Diese Inschrift ist keineswegs mit Graphitstift gemacht. Und an den tausend Fäden, die sich von diesem Dreifuß spannen, an den Tausenden Linien von Kerbe zu Kerbe kehren wir zurück in unsere Welt, um uns ewig an das Leben zu erinnern. Der topographische Dienst ist ein Dienst am Leben.
    Aber an der Kolyma ist nicht nur der Topograph verpflichtet, den Graphitstift zu benutzen.
    Außer dem Dienst am Leben gibt es hier noch den Dienst am Tod, wo der Kopierstift ebenfalls verboten ist. Die Instruktion des »Archivs Nr. 3« – der sogenannten Abteilung Statistik von Häftlingstoden im Lager – lautete: Am linken Unterschenkel des Toten ist ein Täfelchen zu befestigen, ein Sperrholztäfelchen mit der Nummer der Lagerakte. Die Nummer der Lagerakte ist mit einfachem Graphitstift zu schreiben – nicht mit Kopierstift. Der künstliche Bleistift steht auch hier der Unsterblichkeit im Weg.
    Man könnte meinen, wozu dieses Spekulieren auf Exhumierung? Auf Wiedererweckung? Auf Überführung der Asche? Es gibt wer weiß wie viele namenlose Massengräber an der Kolyma – in die man die Menschen ganz ohne Täfelchen warf. Doch Instruktion ist Instruktion. Theoretisch sind alle Gäste des ewigen Dauerfrostbodens unsterblich und bereit, zu uns zurückzukehren, damit wir die Täfelchen von ihren linken Unterschenkeln nehmen und Bekanntschaften und Verwandtschaften klären.
    Sofern nur auf dem Täfelchen mit einfachem schwarzen Graphitstift die Nummer vermerkt ist. Die Lageraktennummer werden weder Regen noch unterirdische Quellen, noch Frühjahrshochwasser abwaschen, wird das Eis des Dauerfrostbodens nicht berühren, das manchmal der sommerlichen Wärme nachgibt und seine unterirdischen Geheimnisse verrät – nur einen Teil dieser Geheimnisse.
    Die Lagerakte, das Formular – ist der Pass des Häftlings, mit Photos en face und en profil, Abdrücken der zehn Finger beider Hände und Beschreibung der besonderen Kennzeichen. Der Registraturverwalter, der Mitarbeiter des »Archivs Nr. 3« muss die Todesurkunde für jeden Häftling in fünf Exemplaren ausstellen mit Abdruck sämtlicher Finger plus dem Hinweis, ob die Goldzähne ausgebrochen wurden. Für die Goldzähne wird ein eigenes Protokoll ausgestellt. So ist es in den Lagern schon immer gewesen, und die Nachrichten von ausgebrochenen Zähnen in Deutschland haben an der Kolyma niemanden verwundert.
    Die Staaten wollen das Gold der Toten nicht verlieren. Urkunden über ausgeschlagene Goldzähne wurden in Gefängnissen und Lagereinrichtungen schon immer ausgestellt. Das Jahr siebenunddreißig brachte den Untersuchungsverfahren und Lagern viele Menschen mit Goldzähnen. Bei denen, die in den Bergwerken der Kolyma starben – sie haben dort nicht lange gelebt –, waren die nach dem Tod ausgebrochenen Goldzähne das einzige Gold, das sie dem Staat in den Goldgruben der Kolyma gegeben haben. In den Prothesen war mehr Gold, als diese Menschen in ihrem kurzen Leben in den Gruben der Kolyma zusammengraben, zusammenschaufeln, zusammenhacken konnten. Wie beweglich die Wissenschaft der Statistik auch sei – dieser Aspekt der Sache ist wohl kaum erforscht.
    Die Finger des Toten sind mit Druckfarbe zu färben, und ein Vorrat an
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