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Erknntnisse eines etablierten Herrn

Erknntnisse eines etablierten Herrn

Titel: Erknntnisse eines etablierten Herrn
Autoren: Oliver Hassencamp
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immer die angenehme Seite des Lebens — , nun ja, ich war wohl ein leichtsinniger Mensch. Wohin geh’ ich eigentlich? Geht’s da nicht zum Späten Schoppen ?
    Damit hatte die Vergangenheit endgültig die Oberhand gewonnen, half ihm, durch eine verwirrende Gegenwart den Weg zu finden zu jener Gastwirtschaft, wo Hubert seinen Stammtisch gehabt hatte. Um die Siebzig müßte Hubert jetzt sein. Wenn er noch lebte. Wenn er noch lebte, gab es den Stammtisch noch, denn Hubert hatte zu viel zu sagen, um bei seiner chronischen Erfolglosigkeit ohne Stammtisch auszukommen. Gab es ihn nicht mehr, wären vielleicht die andern noch da, Pauli, Daniela, Peter und Ines und wie sie alle hießen, und Kathi, die den Tisch versorgte.
    Er ging schneller. Da stand noch das Palais, renoviert sogar, mit bunter Fassade, doch dann endete die Straße, die früher direkt zu seinem Ziel geführt hatte, in einem Parkhaus. Ein schmaler Durchlaß daneben und er stand vor dem Fortschritt: im Grellblau der Straßenbeleuchtung, die gerade aufflammte, durchschnitt eine autobahnartige Ringstraße die behäbige Altstadt. Lukas unterquerte die Betonschneise, ging weiter zu dem kleinen Rondell mit den Geranienbeeten und Bänken um das Reiterstandbild, doch dort gähnte jetzt eine Versenkung zu kreuzungsfreiem Verkehr und spuckte ein rotierendes Blaulicht aus, begleitet von der unsauberen Quart eines Martinshorns, das dem deutschen Staatsbürger Tag und Nacht einhämmert, welch unmusikalischer Obrigkeit er untertan ist. Und überall, von Wänden, Litfaßsäulen und eigens dafür aufgestellten Hindernissen, überlebensgroß die Gesichter der demnächst zur Wahl stehenden Spitzenkandidaten aller Richtungen, eine Auswahl, die deutlich machte, daß zwischen Popularität und Durchschnittlichkeit enge Beziehungen bestehen. Auch eine Frau war dabei. Sie stach heraus. Noch eine Ecke, dann projizierte er das Bild seiner Erinnerung auf die Gegenwart: das Katzenkopfpflaster mit dem dunklen Stern in der Mitte war unversehrt, auch die gußeisernen Laternen rings um den Platz brannten noch gelblichmild, nicht neongrell, und gegenüber, zwischen schmalbrüstigen Giebelhäusern, lag der Späte Schoppen. Neu war die bonbonrote Leuchtschrift über dem Eingang. Seinerzeit hatte sich der Wirt mit einem geschmiedeten Aushänger begnügt. Lukas entzifferte das Blendwerk: Late drink.
    Das kommt davon, wenn man Vergangenheit unvorbereitet besichtigt — sagt er zu sich, während er den Platz überquert. Selbstverständlich hat sich manches geändert.
    Musik tropft durch die Mauer, er öffnet die schwere, reich beschlagene Tür, die Musik wird lauter, nur das Licht bleibt gedämpft. Viel Zimmermannsarbeit schon im Vorraum bei der Garderobe, Balken und Streben, wo’s nichts zu stützen gibt außer der Bemühung, möglichst tudorecht zu wirken. Drei Stufen tiefer liegt die rauchige Höhle mit braunem Kachelboden, mannshohem Kamin, Balkendecke, rustikalen Tischen, Stühlen, Bänken und alles übersät mit Quadrätchen: Kissen, Polster, Tischtücher, Vorhänge in Schottenkaro — altenglisch auf altdeutsche Art in neudeutscher Sicht.
    Der gute, alte Späte Schoppen!
    Enttäuschung wäre nicht das richtige Wort. Lukas ist es, als habe er etwas verliehen und bekomme es beschädigt zurück. Dort an der Wand, wo die kleinen Tische stehen mit den einsitzigen Bänkchen dazwischen, Lehne an Lehne, wie in einem Eilzugwagen, dort hatte Huberts Tisch gestanden und darauf der scheußlich-schöne Herold, die Blechfahne mit der Aufschrift Stammtisch in der Faust. Niemand ist da aus der alten Runde, und auch nicht die Kathi.
    Sie werden umgezogen sein. Dieses modische Lokal ist kein Platz, um sich regelmäßig zu treffen.
    Eigentlich könnte er wieder gehen, in den nicht minder aufwendigen, nicht minder unpersönlichen Grill des Hotels, der ihn angähnte, als er wegging. Aber er bleibt, setzt sich an die nicht zu übersehende Eßtheke, wo gerade ein Hocker frei geworden ist. Ein Blasser im kurzen, weißen Kellnerjackett, auf dem Kopf ein Schiffchen in Schottenkaro, legt ihm die landkartengroße, gleichfalls schottisch karierte Speisekarte hin: graubraun, vielbalkig auf rotem Grund — der Tartan des Clans der Brodie. Schottenkaros auseinanderzuhalten hat Lukas bei Doreen gelernt. Doreen ist Schottin gewesen und seine Frau. Doch daran will er jetzt nicht denken. Er findet es sehr entgegenkommend, daß sich sein altes Stammlokal ihm zu Ehren so englisch gibt, weil er doch quasi von hier aus nach
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