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Erknntnisse eines etablierten Herrn

Erknntnisse eines etablierten Herrn

Titel: Erknntnisse eines etablierten Herrn
Autoren: Oliver Hassencamp
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Hotelzimmer. Die rechte Begrenzung ist nur zwei Geschosse hoch. Darüber hat er freien Blick auf das Dächerlabyrinth der Altstadt. Für perspektivisches Zeichnen eine Prüfungsaufgabe von hohem Schwierigkeitsgrad. Dort, hinter der gewalttätigen Fassade des Jahrhundertwendeprachtbaus, muß es sein:
    Da irgendwo hab ich mein Atelier gehabt, als ich noch glaubte, Gebrauchsgraphiker werden zu müssen. Ich, der ich Briefe oft erst nach Wochen öffne! Ein fabelhafter Geschäftsmann wär’ ich geworden! Aus dem Hof, den ein vergittertes Glasdach überspannt, steigt das Duftgemisch aller Hotels auf: Seife, Fisch, Klosettluftveredler, Fett, Spülwasser, Parkettwachs — und das alles warm.
    Jemand klopft an die äußere der beiden Zimmertüren. Ein Page tritt ein mit zwei Portionen Kaffee und versteht die Landessprache, in der Lukas ihm sagt, er habe keinen Kaffee, sondern das Telefonbuch bestellt, nur so weit, daß er sich bewegen läßt, mit dem Tablett wieder abzuziehen. Auch mit Englisch und Französisch ist ihm schwer beizukommen, er kann nur nicken, den Wunsch nach dem Telefonbuch weiterleiten kann er nicht.
    Neben der Tür steht noch das grüne Stoffköfferchen mit dem Aufdruck Aer Lingus. Lukas hat es einmal in Dublin auf dem Flughafen gekauft und verwendet es seitdem als Aktentasche. Alles, was ihm wichtig ist, hat darin Platz: die Entwürfe von Bildgeschichten für sein Männchen, Notizen über Beobachtungen und die Fragmente für das, was ihm am meisten Spaß macht, die geplante Spleen-Philosophie über die Moral der Faulheit.
    Er stellt das Köfferchen in den Schrank und sperrt ab. Aus dem Hof dringt Besteckgeklapper herauf, aggressiv, als staple jemand Handfeuerwaffen. Er schließt das Fenster, schaut auf die Uhr, das Telefonbuch ist noch nicht gebracht worden. Aber er reklamiert nicht, ärgert sich nicht, kann nicht länger warten, will raus aus dem Touristenkäfig, nimmt seinen leichten Mantel (er kennt die kalten Nächte hier, jetzt im Herbst), dreht den Zimmerschlüssel mit dem angeschmiedeten Totschläger um, eilt schalltot, schwebt hinter gewelltem Messingblech, läßt sich von der Drehtür hinausschaufeln, zögert einen Augenblick, bis die Beine entschieden haben, wohin.
    Zu seiner Lieblingsstraße geht es, dem breiten Boulevard mit der Grünanlage in der Mitte. Mit jedem Schritt wird er heiterer, die Mundwinkel heben sich, bleiben im Dauerlächeln oben, mit jedem Schritt wird er gespannter, erkennt Schauplätze, wie die Buchhandlung, zu der ihm sofort die nette Buchhändlerin mit dem lesefeindlichen Silberblick einfällt, das Geschäft, wo er seine Hemden gekauft hat. Drüben, ganz dort vorne, ist er zur Schule gegangen, als die Eltern noch lebten. Die Schule ist weg, das Friedrichsgymnasium oder Wilhelmsgymnasium? Eins von beiden, mehr Auswahl gab’s damals noch nicht.
    Hier, gleich um die Ecke, hab ich gewohnt; bei der Naziwitwe, nach der Währungsreform, das muß kurz vor meiner ersten Verlobung gewesen sein. Ich hatte ja eine Schwäche dafür, in Familien einzusickern, das Aufgebot von Küche und Keller, Onkeln und Tanten zu probieren, mit Küßchen, Du, Geschenken, ohne feste Verpflichtung. Da drüben habe ich meine Bleistifte und das Zeichenpapier gekauft und, wenn ich mich recht erinnere, die Frau des Besitzers mal nach einem Ball verschleppt. Ich sehe Häuser und assoziiere Abenteuer. Aber das liegt vermutlich weniger an den Örtlichkeiten und Personen als an dem Kitzel, sich selber zu begegnen, den kennenzulernen, der man damals war. Ich weiß noch, daß ich mir geschworen hatte, das Amüsement, das ich durch Krieg und Nachkriegszeit verloren hatte, nachzuholen und erst später in ernsthafte Arbeit abzurutschen. Fast zwölf Jahre bin ich standhaft geblieben! Café Roseneck? Hab ich da nicht diese Frischgeschiedene...? Ich kriege hier einen falschen Eindruck von mir. Sieht aus, als wäre ich ein Windhund gewesen. Ein Klischee von einem Windhund. Vielleicht kommt’s mir auch nur so vor. Da läuft man in fünf Minuten durch eine Straße, und erinnert sich an tausend Erlebnisse, die sich innerhalb von zehn Jahren abgespielt haben! Das gibt schiefe Perspektiven. Mit zunehmendem Veteranenalter wachsen die Siege; aus Wünschen ist längst Wirklichkeit geworden, die Niederlagen sind aus der Erinnerung vertrieben, man staunt ehrlich, was für ein toller Bursche man war. Ich war keiner. Für Eroberungen war ich viel zu bequem. Ich hatte es zu leicht. Bei allem, was mich damals interessiert hat —
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