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Erknntnisse eines etablierten Herrn

Erknntnisse eines etablierten Herrn

Titel: Erknntnisse eines etablierten Herrn
Autoren: Oliver Hassencamp
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dem Abheben, nicht aber links. Er kennt sich aus, ist Notlandungsveteran.
    »Wie damals in Montreal!«
    Die Handbewegung, die er dazu macht, sagt, was er nicht sagt: Es wird furchtbar!
    Ein Scharfsinniger, von dem Lukas nur die Glatze sieht, halt weiteres Angstmaterial parat: Wenn ein Reifen zu wenig Luft hat, dann landet man so schnell wie möglich, bevor noch mehr entweicht. Treibstoff verbrauchen bedeutet immer Bauchlandung. Er nennt Zeugen, eine Illustrierte, die erst kürzlich die Anatomie eines Flugzeugunglücks veröffentlicht hat. Er kann zitieren:
    »Das schlimmste ist das Kreisen. Oft stundenlang. Und man weiß, was einem bevorsteht. Das ist eine moderne Form der Folter.«
    Jetzt wehrt Andrea die feuchte Hand nicht mehr ab, die nach der ihren greift; in Gefahr gehört man leichter zusammen.
    »Hast du Angst?« fragt sie.
    »Ich würde lieber in London landen. Wie auch immer.«
    »Ich nicht.«
    Sie lächelt. An etwas denken, damit die Zeit vergeht, etwas fühlen — das ist jetzt alles.
    Die Luftmannequins haben die Barwagen gebracht, versorgen die Weißen mit harten Sachen und lächeln dazu, halten mit Kühle das Selbstmitleid der Passagiere bei kleiner Flamme. Wer traut sich, so feige zu sein, wie er ist, solange ein junges Mädchen lächelt? Etwas wie Stimmung ist ausgebrochen, die normale Abwehrhaltung des Reisenden gegen die Mitreisenden hat sich verwischt, wenn auch nur vorübergehend. Der Notlandungsveteran weiß wieder was:
    »Nachher heißt’s Krawatten und Brillen ab, Hosenträger runter, Gürtel auf, Zähne raus. Dann hilft nur noch Gottvertrauen!«
    »Mein Gott, halten Sie doch Ihren Mund!« ruft der andere weibliche Passenger.
    Lukas dreht die Luftdüse weiter auf. Andrea in der Nahe, das bedeutet Komplikationen, sogar solche, die nichts mit ihr zu tun haben. Ein vielseitiger Unstern! Drunten das Plusquamperfekt, jetzt von der Sonnenseite.
    Zum letztenmal?
    Das ist der neue, von jetzt ab alleingültige Blickwinkel. Läge Andrea noch schlafend im Krankenhaus, wäre das Fahrgestell auch nicht besser in Schuß, aber er säße jetzt allein da.
    »Sag mir mal ehrlich: Wie bist du rausgekommen aus dem Krankenhaus?«
    »Um zwei bin ich aufgewacht und hab’ Alfredo angerufen. Er hat mich sofort abgeholt.«
    »Wie hat er denn das geschafft?«
    »Furchtbar einfach. Professor Mellinger war ja auch auf der Party.« Das Schweigen, in das sie wieder verfallen, unterscheidet sich von dem vorausgegangenen gleichsam beredt. Andrea hat sich an ihn gelehnt, die Hände, mit denen sie einander halten, sind gefaltet, ihr Kopf liegt an seiner Schulter, ihre freie Hand liegt auf seinem Schenkel. Nahe ist jetzt alles, Fühlen und mit seiner Vorstellung aussteigen aus dem kranken Vogel, andere an seinen Platz setzen: Peter und Ines zum Beispiel. Was wurden sie tun, in der gleichen Situation? Sie wurden den technischen Schrecken bestehen, ohne Spritze, ohne Alkohol, würden meditieren und nichts mehr wahrnehmen von dieser Welt, deren Segnungen sie verachten. Oder Renate. auch sie wäre gefaßt, würde die Augen schließen und an etwas Schönes denken, tapfer, unkompliziert. Und Lilly? Sie würde Haltung bewahren, aber etwas einnehmen für die Haltung. Denn selbstverständlich hatte sie alles dabei, in ihrer perfekten Art. Und was machte Daniela? Was wäre ihr wichtig, wenn nichts mehr wichtig ist? Was ist ihm selber wichtig? Was hat sich denn geändert? Ruhig fliegen sie, erschütterungsfrei, keine Motoraussetzer sind zu hören, die Sonne scheint herein, es gibt keine Komplikationen. Nur die Durchsage hat das noch andauernde Wohlbefinden madig gemacht, hat durch Weglassen die Projektion einer Katastrophe provoziert, die nicht eintreten muß. Und wenn? Warum können sie nicht unwissend ins Verderben rasen wie Urlauber? Die Illustrierte hat recht: Das Spritverfliegen ist der eigentliche Todesdurchgang, die endlose, zwanghafte Herausforderung, zu Ende zu denken. Und das, wo doch jeder Laie weiß, wenn wir explodieren, werden wir’s nicht merken.
    »Port and Brandy« sagt er zu dem Luftmannequin, das noch immer lächelt, noch immer zu trinken anbieten kann, trotz größten Zuspruchs. Sie wird keinen Port and Brandy haben. Noch nie bekam er während eines Fluges Port and Brandy, oder hat noch nie einen bestellt. Im Flugzeug gibt es Whisky, Kognak, Bier, Sekt, aber keinen Port. Und wenn der Unstern Andrea dabei ist, schon gar nicht, »Zweimal?«
    Sein Unstern nickt.
    »Zweimal.«
    Aberglaube. In der eingebildeten Gefahr,
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