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Er war ein Mann Gottes

Er war ein Mann Gottes

Titel: Er war ein Mann Gottes
Autoren: Karin Jäckel
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richtiger zu sein. Nur, wie war ich denn, wie war ich »richtig«?
    Ich strengte mich an zu gefallen. Eine Zeitlang machte ich alles genau wie das beliebteste Mädchen in meiner Kindergartengruppe. Ich wollte dasselbe Täschle wie sie und hing mir dieselbe Plüschmaus daran. Ich imitierte ihre Kleidung und versuchte, so zu hüpfen und zu sprechen wie sie. Es half nichts. Im Gegenteil, ich wurde noch stärker ausgeschlossen als zuvor. Wie sehr ich mich auch bemühte, ich wurde nur dann ernst genommen, wenn ich nicht so lieb und nachgiebig und zuckersüß war wie sie.
    Ich glaube, ungefähr zur Zeit meiner Einschulung war ich dann so weit, dass ich mich nach niemandem mehr richten wollte und nur noch anders sein wollte als andere.

    So blieb nicht aus, dass ich immer mal wieder aneckte und Ärger mit anderen Kindern hatte. Zu meiner Mutter durfte ich damit nicht kommen. Sie hätte sich zu sehr aufgeregt. Aber zum Glück hatte ich ja meinen Vater, der bis zum heutigen Tag der wichtigste Mensch in meinem Leben ist. Niemals würde ich es über mich bringen, ihn durch das Geständnis des Missbrauchs zu verletzen.
    Wie entsetzlich, wenn meine Eltern sich meinetwegen schämen, mich verachten oder gar hassen würden, wenn sie nichts mehr von mir wissen wollten, mich, das ewig schwarze Schaf in der Familie, ausstoßen würden!
    Woher wüsste ich außerdem, dass sie mir meine Unschuld glauben würden? Würden sie sich gegen einen Priester, einen Mann Gottes, gegen den damals in unserem Ort allseits geachteten Herrn Vikar oder gar gegen die allmächtige Institution Kirche stellen und zu mir stehen? Oder würden sie mir Vorwürfe machen?
    Wäre ihre erste Reaktion nicht: »Du bist doch selber schuld, so wie du dem nachgerannt bist!«?

Ein Stücklein Himmel

    Ich weiß, wie meine Eltern über Priester, den Zölibat und Frauen denken, die einen Mann Gottes dazu verleiten, seine der Kirche versprochene Keuschheit aufzugeben.
    Mit zwölf Jahren war ich ein Kind, als unser Vikar Frederic Pfeiffer mich zu seiner Geliebten machte. Nicht ich, das Kind, hatte ihn dazu verführt, sondern er, der erwachsene Mann, mich. Nicht um seine priesterliche Keuschheit geht es also, sondern um meine geraubte Unschuld. Die ist nicht meine Schuld, sondern einzig und allein seine.
    Aber würden meine Eltern dies auch so sehen? Ich fürchte, nein.
    Wir sind eine tief religiöse Familie. Gemeindehelferinnen, Pfarrhaushälterinnen, Religionslehrer, Nonnen, Priester, ja, sogar eine Äbtissin und zwei Bischöfe gingen daraus hervor. Einige dieser Geistlichen kommen bis heute zu den großen Familienfeiern wie Kindstaufen, Hochzeiten oder Beerdigungen, um die heiligen Handlungen für uns zu zelebrieren.
    Vor allem die Männer, die sich als berufene Jünger Jesu Christi verstehen, werden von der Familie verehrt. Da sie Dienst am Tisch des Herrn tun und alle heiligen Handlungen ausüben dürfen, zählen sie nicht bloß in der Kirchenhierarchie, sondern auch bei uns daheim viel mehr als eine einfache Klosterschwester.

    Ich war noch ein Kindergartenkind, als einer meiner Verwandten zum Priester geweiht wurde. Damals erklärte meine Tante mir die Sache mit dem Zölibat und sagte, Gott Vater selbst habe den frommen jungen Mann zu sich an den Altar berufen, damit er ihm dienen solle. Als Lohn dafür schenke der Herr ihm das Himmelreich. Ich weiß noch, wie ich staunte und mir meinen Onkel in seinem weißen Heiligengewand als Besitzer des Himmels vorstellte, so ähnlich wie meinen Vater, dem ein Kaufhaus gehörte.
    Durch meinen frisch geweihten Onkel und die übrigen Gottberufenen hätten auch wir anderen Familienmitglieder eine besondere Gnade bei Gott, meinte meine Tante weiter. Weil Gott ihnen als seinen Liebsten das Himmelreich schenke, dürften sie uns als ihren eigenen Liebsten davon ein Stücklein abgeben. Unsere Seelen würden nicht im Fegefeuer brennen müssen. Denn sie würden in der Stunde unseres Todes auf den Gott besonders wohlgefälligen Gebeten unserer geweihten Verwandten geradewegs zum Himmel emporgetragen.
    Das Fegefeuer kannte ich von Bildern aus der kostbaren Bibelausgabe meiner Tante. Und seitdem ich mich einmal beim Spiel an der offenen Flamme im Kachelofen verbrannt hatte, wusste ich auch, wie weh es im Fegefeuer tun müsse. Der Glanz des Besonderen, den meine Tante über unsere Familie zeichnete, beeindruckte mich tief, und so wurde die Kirche allmählich mein zweites Zuhause.
    Erst Jahre später entdeckte ich, dass meine Tante damals bereits
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