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Er war ein Mann Gottes

Er war ein Mann Gottes

Titel: Er war ein Mann Gottes
Autoren: Karin Jäckel
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dass es verboten war. Ich wollte, dass sie es sehen würden. Sie sollten genau wie alle anderen Eltern sein und mich ausschimpfen und anschließend loben, wenn ich wieder lieb wäre. Ich wollte Eltern haben wie alle Eltern und wollte ein Kind sein wie alle Kinder.
    Auch die anderen Kindergartenkinder merkten bald, dass ich eine Sonderrolle hatte. Wenn es einen Streich auszuhecken galt, schoben sie mich vor. »Mach du das, Cora. Bei dir ist es egal. Du kriegst sowieso nicht geschimpft.«
    »Bei dir ist es egal.« Wieder und wieder musste ich an diesen Satz denken, und schließlich hatte ich das Gefühl: »Meinen Eltern ist völlig egal, was ich mache. Meine Eltern haben mich nicht lieb.« Allein in meinem Bett habe ich oft und bitterlich deswegen geweint.

    Als ich irgendwann aus einem Gespräch aufschnappte, dass mein Vater sich einen Sohn, einen Stammhalter und Geschäftsnachfolger, gewünscht hatte und nun bloß eine Tochter und nicht einmal die Aussicht auf ein weiteres Kind da waren, glaubte ich zu wissen, dass ich als falsches Kind in meine Familie gekommen war.
    Wahrscheinlich wollte ich deshalb lange Zeit kein »richtiges« Mädchen sein. Ich wollte meinem Vater gefallen, indem ich mich jungenhaft aufführte. Meine Verwandten erzählen heute noch, dass ich immer sofort die schönen Strümpfe und Kleidchen dreckig machte, mit denen meine Mutter mich ausstaffierte. Auch riss ich mir die Schleifen aus den kunstvoll frisierten blonden Locken, sobald ich aus dem Zimmer laufen durfte. Mein Lieblingsgewand bestand aus langen Hosen, und als ich im Kindergarten mit der Schere umgehen lernte, schnitt ich mir die Haare ab.

    Wie mein jungenhaftes Benehmen bei meinem Vater ankam, weiß ich nicht recht. Bei uns wurde nie viel über das Alltägliche hinaus gesprochen. Aber eins spürte ich ganz genau, dass er mich, sein »Schätzele«, lieb hatte, egal, wie ich war.
    Auf ihn durfte ich zulaufen und mich in seine Arme schmeißen. Er nahm mich hoch und wirbelte mich herum. Er war mein Reittier und mein Kuschelbär. Er war mein Ein und Alles.

    Damit unterschied er sich deutlich von meiner Mutter, die mich kaum je berührte, mich aber gleichzeitig spüren ließ, dass sie mich als herausgeputztes Püppchen vorzeigen wollte. Meine Mutter freute sich, eine Tochter zu haben. Ich begriff einfach nicht, dass all die Kleidchen und Löckchen ihre Art waren, mir ihre Liebe zu schenken.
    Im Grunde war meine Mutter mir fremd. Sie wurde von mir und uns allen verwöhnt und stand im Mittelpunkt allen Interesses. Aber sie war keine Mutter, die für mich da sein konnte. Sie war, so empfand ich es, in erster Linie für sich selbst da. Sie hatte genug mit sich und ihrem Gesundwerden zu tun.
    Ein Gedanke begleitete meine Kindheit, dass meine Mutter mir das Leben geschenkt und ihre eigene Gesundheit dafür geopfert hatte. Ständig verursachte mir dieser Gedanke ein schlechtes Gewissen, war es doch scheinbar meine Schuld, dass es meiner lieben Mutter schlecht ging. Und so war nur eines wichtig, dass sie wieder gesund wurde.
    Obwohl ich meine Mutter liebe und bis heute um ihre Anerkennung bemüht bin, war meine Tante in den ersten Kinderjahren mehr Mutter für mich als sie. Nach ihrem Tod blieb ich mit einem Gefühl der Mutterlosigkeit zurück, obwohl meine leibliche Mutter noch lebte. Umso fester schloss ich mich daher meinem Vater an.
    Wenn er über meine aufgeschlagenen Knie und den Triangelriss in der Hose lachte und rief: »Ja, du wilde Hummel, du! Wer bist denn du überhaupt? Unsere Cora oder unser Caro?«, dann war meine Welt in Ordnung, denn im Herzen fühlte ich mich als sein Bub, sein wilder Caro, nicht als Mutters »Maidle«, ihre liebe Cora.

    Mit etwa fünf Jahren wurde mir allmählich schmerzlich bewusst, dass ich ein Mädchen war und kein Junge werden konnte. So sehr ich mir wünschte, als das anerkannt zu werden, was ich war, es wollte nicht gelingen. Den Mädchen war ich zu viel Junge, den Jungen zu wenig. Sie hatten keine Lust, mit mir zu spielen.
    Nur wenn keiner sich traute, wurde regelmäßig ich gefragt. »Bei der ist es ja egal.« Dabei blieb es. Und natürlich traute ich mich, denn wie wunderbar war es, einmal dazuzugehören.

    Mein Vater sagte einmal: »Unsere Cora ist irgendwie immer verkehrt.« Irgendwie musste ich scheinbar alles sein, wenn ich gefallen wollte, ein bisschen Junge, ein bisschen Mädchen, ein wenig wild, ein wenig lieb. Nur durfte ich nicht sein, wie ich war. Immer sollte ich irgendwie anders sein, um
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